Psychologin Julia Scharnhorst im Interview

Lockerungen im Corona-Sommer: "Dauerhaft einen Gang zurückschalten"

Bonn - Mit Freunden treffen, ins Café gehen, ein Einkaufsbummel in der Stadt: Nach vielen Monaten Lockdown ist das wieder möglich. Psychologin Julia Scharnhorst erklärt, warum es normal ist, dass wir uns zunächst daran gewöhnen müssen – und sieht auch eine Chance.

Veröffentlicht am 05.07.2021 – Spiritea

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Manche Menschen wollen am liebsten sofort alles nachholen, was in den vergangenen Monaten nicht möglich war. Andere sind zurückhaltender. Wie Menschen auf die Corona-Lockerungen reagieren, hängt von vielen Umständen ab, sagt Julia Scharnhorst, Fachbereichsleiterin Gesundheitspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie über Gewohnheiten, volle Biergärten und die Kommunikationslücken der Politik.

Frage: Frau Scharnhorst, welche Gründe hat es, dass die Menschen mit den ersten Öffnungen unterschiedlich umgehen?

Scharnhorst: Natürlich reagieren nicht alle Menschen gleich. Wer sich gegenüber der Krankheit verletzlich und anfällig fühlt, ist eher vorsichtig und hat in einer größeren Menschenansammlung vielleicht ein ungutes Gefühl. Das kann mit Vorerkrankungen zusammenhängen, mit dem Alter oder mit pflegebedürftigen Angehörigen. Auch warnen Wissenschaftler vor einer vierten Welle und Virusmutationen, also ist die Gefahr noch nicht ausgestanden. Ein anderer Aspekt ist die Frage, wie belastend die Menschen die Einschränkungen erlebt haben.

Frage: Eine gewisse Belastung hat in den vergangenen Monaten fast jeder erlebt, oder?

Scharnhorst: Sicher. Aber es gibt durchaus Leute, die die Arbeit im Homeoffice als entschleunigend empfunden haben und gern weiter so arbeiten wollen. Andere haben sich alleine gefühlt und freuen sich, wenn sie nun wieder häufiger ins Büro gehen und ihre Kollegen sehen. Dieser persönliche Leidensdruck spielt eine wichtige Rolle. Das sehen wir auch bei jungen Leuten, die offenbar ein großes Bedürfnis haben, wieder Party zu machen. Sie fühlen sich oftmals weniger verletzlich dem Virus gegenüber, haben aber sehr unter den Einschränkungen gelitten.

Frage: Manchmal erscheinen kleine Erledigungen, über die man früher kaum nachgedacht hätte, wie ein Angang. Haben wir uns in der Isolation "eingerichtet"?

Scharnhorst: Man gewöhnt sich natürlich daran. Die Einschränkungen haben sich über eine lange Zeit hingezogen. Zudem haben wir gelernt, dass wir schwer krank werden und sterben können, wenn wir anderen Menschen zu nahe kommen. Das hat sich ins Gedächtnis eingegraben, und jetzt ist es erstmal ungewohnt, sich wieder unter Menschen zu begeben. Wenn man etwas sechs Wochen lang regelmäßig macht, bilden sich Gewohnheiten - die Kontaktbeschränkungen galten deutlich länger. Auch das fanden manche Menschen angenehm: nicht ständig jemanden treffen zu müssen oder nicht im Trubel einzukaufen. Sie fragen sich jetzt, ob das wirklich wieder nötig und gut ist.

Bild: ©picture alliance/Markus Scholz (Symbolbild)

In den letzten Monaten bestimmte der Corona-Lockdown unser Leben – daran haben wir uns gewöhnt.

Frage: Ist es das?

Scharnhorst: Viele sind in eine gewisse Corona-Lethargie verfallen. Studien zeigen, dass eine relativ hohe Gewichtszunahme in der Bevölkerung feststellbar ist. Wir waren also weniger aktiv, haben uns zurückgezogen. Da fällt es schwer, das Aktivitätslevel wieder hochzuschrauben. Das kann aber auch etwas Positives sein: Viele Leute haben vor Corona auf einem hohen Stresslevel gelebt, und vielleicht ist es gar nicht wünschenswert, alles zurückzudrehen und genauso hektisch weiterzuleben. Man kann die Gelegenheit nutzen, um dauerhaft einen Gang zurückzuschalten - ob beruflich oder privat.

Frage: War diese Gewöhnung notwendig oder sogar hilfreich, um in der Pandemie überhaupt zurecht zu kommen?

Scharnhorst: Natürlich. Wenn wir dauernd gegen die Umstände ankämpfen, alles kritisieren und infrage stellen, dann ist das furchtbar anstrengend. Ich habe den Eindruck, dass die meisten Leute der Politik im Großen und Ganzen vertraut haben. Es fällt leichter, wenn man die Gründe für bestimmte Maßnahmen nachvollziehen kann - auch wenn das sicher nicht optimal gelaufen ist. Ich sehe deutliche Kommunikationslücken. Dennoch waren die meisten Menschen vertrauensvoll und gutwillig.

Frage: An welche Kommunikationslücken denken Sie?

Scharnhorst: Es ist sinnvoll, den Menschen zu erklären, warum bestimmte Maßnahmen ergriffen werden. Das habe ich vermisst. Bisweilen wurde ein Zickzack-Kurs gefahren: Erst waren Inzidenzwerte von 35 im Gespräch, bevor Lockerungen greifen können, dann wurde die Zahl auf 50 erhöht und schließlich auf 100. Das wirkte beliebig, und viele Menschen konnten nicht nachvollziehen, wie die Politik auf diese Zahlen kommt. Das ist aus psychologischer Sicht ungünstig, weil Menschen sich eher an Regeln halten, die sie verstehen und gutheißen. Wenn Regeln willkürlich daherkommen, ist man eher geneigt, zu hadern oder sich nicht daran zu halten.

Frage: Sie haben angesprochen, dass viele dem veränderten Alltag durchaus Positives abgewonnen haben. Wie kann man sich diesen Effekt erhalten?

Scharnhorst: Eine Möglichkeit ist, bewusst zu überlegen: Was möchte ich? Mit wem will ich mich treffen und wie häufig? Welche Aktivitäten tun mir gut? Nur weil es wieder möglich ist, muss man nicht ständig aktiv und unter Menschen sein. Was hat mir nicht gefehlt? Worauf freue ich mich? Diese Fragen können hilfreich sein - übrigens auch dann, wenn es um Verhandlungen mit dem Arbeitgeber geht. Viele Menschen wünschen sich künftig die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. Mein Rat ist, nicht abzuwarten, was sich so ergibt, sondern diese Phase aktiv zu gestalten.

Frage: Was kann helfen, wenn man merkt, eigentlich fühle ich mich noch nicht bereit für einen Besuch im Biergarten, einen Urlaubsflug oder eine Veranstaltung mit vielen Menschen?

Scharnhorst: Ich würde abwarten, bis sich das gut anfühlt. Es macht keine Freude, im Biergarten zu sitzen und sich ständig zu fragen: Oh, ist jemand zu nah an mir dran? Wir müssen nicht in Hektik verfallen, sondern können uns an das herantasten, was uns gut tut. Es ist wichtig, mit den Menschen im eigenen Umfeld im Austausch zu bleiben. Das kann dabei helfen, sich selbst klarer zu werden, was man will und was nicht. Zudem können andere leichter Verständnis zeigen, wenn man ihnen erklärt, wie man sich mit bestimmten Dingen fühlt - es geht ja nicht darum, den anderen den Spaß zu verderben. Vielmehr kann man Kompromisse finden und vielleicht nicht in den beliebten, rappelvollen Biergarten gehen, sondern ein Picknick im Park machen.

von Paula Konersmann (KNA)