Flutkatastrophe: Alte Überlieferungen können auch heute Trost geben
Bonn - Die Flutkatastrophe im Rheinland und Bayern mag menschengemacht sein. Durchstehen muss sie aber der einzelne Mensch, den es traf. Kein Trost reicht aus. Was kann helfen? Es sind die alten Überlieferungen, an denen wir in solchen Situationen festhalten.
Veröffentlicht am 21.07.2021 – SpiriteaHTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
"Selbst die Sintflut dauerte nicht ewig. Einmal verrannen die schwarzen Gewässer." – Diese Zeilen von Bertolt Brecht aus seinem späten Gedicht "Beim Lesen des Horaz" klingen tröstlich. Doch im letzten Satz folgt die Einschränkung. Dort heißt es: "Freilich, wie wenige dauerten länger!"
Das bedeutet: Wie und ob wir eine Katastrophe überstehen, der Preis für den Einzelnen ist stets zu hoch. Denn auch wenn von einer solchen ein ganzer Landstrich betroffen wird – ausbaden muss sie immer der einzelne Mensch. Verzweiflung ist immer etwas Individuelles, und persönliches Leid lässt sich nicht teilen. Es lassen sich nur Anteilnahme und Hilfsbereitschaft aufstocken.
Wenn Existenzen weggespült werden
Mit dem lakonischen Wort "Naturkatastrophe" sind die persönliche Tragik und Einzelschicksale Tausender Menschen nicht zu fassen, denen in Sekunden Heim, Familienerinnerungen, liebe Erbstücke und Haustiere, ja die ganze Existenz weggerissen wurde. Ein surreales Beispiel von vielen: Ein Ehepaar wollte am Fluttag den Verkauf seines Hauses notariell besiegeln. Da trat die Ahr – nicht umsonst trägt sie den Namen "die wilde Tochter des Vaters Rhein" – in nie gewesenem Rahmen über ihre Ufer. Das Haus wurde schwer beschädigt, die Alterssicherung – einfach weggespült.
Im Ort Schuld, wo die Ahr sich besonders romantisch durch ihr enges Tal windet, wurden die idyllischen Schleifen zur Todesschlinge. Der Fluss riss Häuser mit, zerstörte innerhalb von wenigen Stunden gegenwärtige Existenzen, Bauten der Vergangenheit und Perspektiven für die Zukunft. Die Verheerungen allein sind bisher kaum zu ermessen. Eifel-Flüsslein wie die Erft und die Rur, die sonst in ihrem Bett dahindümpeln, wurden zu 30 Meter breiten, reißenden Strömen, die die Ufer unterspülten und zahlreiche Häuser in einem Krater versinken ließen.

Einsatzkräfte der Feuerwehr gehen durch den verwüsteten Ortskern von Schuld.
Den Menschen, die vor dem Nichts stehen, helfen keine umweltpolitischen Analysen, die wohl zu recht seit Jahren davor warnen, dass durch die Klimaerwärmung der Starkregen zunimmt und durch die Bodenversiegelung das Wasser nicht mehr in die Natur abfließen kann. Sie brauchen Hilfe, die sie ja auch bekommen.
Um Materielles kümmert man sich schnell – und was ist mit seelischen Schäden?
Seelsorgerteams und psychologische Dienste sind vor Ort, das Technische Hilfswerk, die Bundeswehr und die Feuerwehr arbeiten sich durch den Schlamm – immer noch auf der Suche nach Vermissten. Freiwillige aus nah und fern, berührt von den verstörenden Bildern der unvorstellbaren Verwüstungen, kamen mit Gummistiefeln, Spaten und gutem Willen zum Anpacken. Binnen Stunden liefen nach Aufrufen in sozialen Medien Lager mit Sachspenden voll. Wenn die Wasser abgeflossen sind, fließen die Hilfsgelder.
Das war auch schon im Osten der Republik so, als Oder und Elbe bei dem sogenannten Jahrhunderthochwasser über die Ufer traten und zu Seen wurden. Die materiellen Schäden sind mittlerweile behoben, die Versicherungen haben bezahlt oder auch nicht – und von posttraumatischen Folgen wird wenig berichtet.
Woran wir festhalten können
Woran liegt es, dass der Mensch solche persönlichen tragischen Einschnitte dann doch bewältigt? Der Überlebenstrieb ist das eine – der stark ausgeprägte deutsche Aufbauwillen gehört sicher dazu. Aber es ist noch etwas anderes im Spiel, dass wir uns mit unseren Erlebnissen auf Dauer dann doch nicht gänzlich allein gelassen fühlen. Es sind die alten Überlieferungen, an denen wir uns festhalten.
Brecht zitierte im obigen Gedicht nicht umsonst Horaz. Der römische Geschichtsschreiber hielt in seinen Werken die kollektive Erinnerung an die Naturkatastrophen seiner Zeit wach, kündete von verheerenden Unwettern und Überschwemmungen. Und nicht zuletzt die Bücher des Alten und Neuen Testaments erzählen von der Gewalt der Wasser und ihrer Überwindung. Moses teilt mit seinem Stab das Rote Meer und führt sein Volk hindurch, die Wogen schlagen über seinen Verfolgern zusammen, sodass sie ertrinken.
Noah rettet die Tiere mit seiner Arche vor der Sintflut, Jonas überlebt im Bauch eines Wals, der ihn an einem Ufer wieder ausspuckt. Und selbst Jesus: Am See Genezareth wandelt er auf dem Wasser, ohne unterzugehen. In stürmischer See mit seinen Jüngern bändigt er die Stürme. Der Glaube versetzt nicht nur Berge, sondern bändigt auch die Wasser – bis sie in den Schriften der Offenbarung zusammen mit dem Feuer ihre destruktive Kraft wieder vorführen. Wir dürfen es den Leidtragenden nicht verdenken, wenn sie sich im Zentrum der Apokalypse wähnen. Brecht weiß da auch Rat: "Neu beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug."