Historikerin und Buchautorin Rio: "Mehr Demut vor dem Wissen unserer Vorfahren"

Über die Bedeutung von Kraftorten und wo wir sie finden

Bonn - Nicht nur während Corona sehnen sich die Menschen nach einem Ort zum Auftanken, sogenannten "Kraftorten". Gibt es auch Plätze mit einer negativen Energie? Im Interview erklärt Historikerin Roberta Rio, wie unterschiedliche Orte auf uns wirken können.

Veröffentlicht am 27.09.2021 – Spiritea

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Haben Orte eine "Seele"? Können sie Menschen positiv oder auch negativ beeinflussen? Suchen wir auch deshalb alte Kirchen und Klöster auf, weil diese - oft auf keltischen Kraftplätzen errichteten Orte der Gottesverehrung - unserer Seele gut tun? Fragen wie diese beleuchtet die Historikerin Roberta Rio in ihrem Buch "Der Topophilia-Effekt. Wie Orte auf uns wirken". Im Interview bricht die Historikerin eine Lanze für altes Wissen und erklärt, wie jeder seinen persönlichen Kraftort finden kann.

Frage: Frau Dr. Rio, wie sind Sie als Historikerin dazu gekommen, sich mit der stärkenden, aber mitunter auch schädlichen Wirkung von bestimmten Orten zu befassen?

Rio: Aufgrund meiner eigenen Erfahrung: Meine Mutter wurde krank, und ich habe mich gefragt, ob das mit dem Haus zusammenhing, in dem sie lebte und in dem ich mich schon als Kind nie wohlgefühlt habe. Hippokrates riet bei chronischen Krankheiten, den Wohnort zu wechseln - eine interessante Herangehensweise, die mich neugierig gemacht hat. Meine Mutter hat das abgelehnt, sie ist verstorben. Durch ihren Tod habe ich mich intensiv damit beschäftigt, wie Orte auf uns wirken.

Frage: Mit welchem Ergebnis?

Rio: Ich habe bemerkt, dass an manchen Orten immer wieder ähnliche Ereignisse passieren. Ich habe keine Erklärung dafür. Aber ich konnte aus der historischen Perspektive bestätigen, dass bestimmte Begebenheiten wie Glück, Krankheiten und Erfolg an gewissen Orten gehäuft auftreten. Seit 2008 erstelle ich Gutachten, werde von Privatpersonen und Unternehmen beauftragt, über die optimale Widmung eines Ortes zu forschen. Inzwischen habe ich meine eigene Methode entwickelt und sie 2011 an der Universität von Glasgow präsentiert.

Frage: Und was macht man mit der Erkenntnis, wenn ein Ort eine schlechte Energie zu haben scheint?

Rio: Zunächst möchte ich bemerken, dass es nicht per se einen "guten" oder "schlechten" Ort gibt. Das Thema ist, wie wir diese Orte nutzen. Unsere Vorfahren haben bewusst das Areal für ihren Friedhof - ein Ort des Zerfalls - ausgewählt. Vielleicht haben sie es gewählt aus dem Empfinden, dass die natürliche Energie der Erde an dieser Stelle die Zersetzung der Materie unterstützt. Wir sollten auf diesem Areal heute also keine Wohnanlage errichten; für eine Müllverwertungsanlage wäre es aber ideal. Ich wünsche mir mehr interdisziplinäre Forschung auf dem Gebiet, das unsere heutige Wissenschaft mit großer Skepsis betrachtet.

Bild: ©pingpao - stock.adobe.com (Symbolbild)

Auch durch die für viele belastende Corona-Pandemie breitete sich der Trend aus, Kraftorte aufzusuchen.

Frage: Viele Menschen sehnen sich nach einem Ort zum Auftanken. Wie können sie ihn finden?

Rio: Jeder von uns spürt intuitiv die Atmosphäre und Ausstrahlung eines Ortes. Bei der ersten Begegnung mit einem neuen Menschen oder auch einer neuen Wohnung spürt man - auch über winzige körperliche Reaktionen - sofort eine Zu- oder Abneigung, ein Wohlfühlen oder Unbehagen. Die erste Wahrnehmung, das Bauchgefühl sagt immer die Wahrheit. Oft kommt dann der Verstand ins Spiel mit Argumenten wie: "Aber die Lage der Wohnung ist gut...". Und später merkt man, dass der Umzug dorthin doch keine gute Idee war.

Die Römer gingen davon aus, dass jeder Ort einen sogenannten spiritus loci, einen besonderen "Geist des Ortes" hat. Für sie hatte jeder Ort eine eigene Persönlichkeit, mit der man zurechtkommen musste. Unsere Vorfahren haben diesem ersten Eindruck mehr Raum gegeben.

Frage: Zum Thema Kraftorte gibt es mittlerweile viele Veröffentlichungen. Woher rührt das starke Interesse?

Rio: Das Thema "Kraftorte" ist in Mode. Durch die Corona-Herausforderungen gibt es eine große Sehnsucht nach einem Raum, an dem wir ankommen können. Die aktuelle Krise hat aber auch den Blick geschärft für das Wesentliche im Leben - da bekommen die Themen Wohnen und Entspannung eine große Bedeutung.

Frage: Viele suchen auch Kirchen, Kapellen und Klöster zum Krafttanken auf. Woran liegt das?

Rio: Da kommen wohl mehrere Faktoren zusammen. Es steht fest, dass die alten Baumeister beispielsweise Kreuzgänge dort errichteten, wo sich einst unterirdisches Wasser befand. Der Psychologie-Professor und Neurotheologe Michael Persinger hat sein ganzes Leben darüber geforscht. Er ging davon aus, das unterirdisches Wasser die elektromagnetischen Felder unseres Körpers beeinflusst. Dadurch entstehen Halluzinationen, Visionen oder andere ungewöhnliche Körperwahrnehmungen.

Wer sich mit den Texten alter Baumeister auseinandersetzt, bemerkt, dass diese Orte stets bewusst gewählt wurden. Denn dort glaubte man Kräfte der Natur am Werk, um gewisse Phänomene wie das Streben nach Spiritualität oder das Gefühl von Mystischem zu erzeugen. Unsere Vorfahren haben Gebäude mit viel mehr Aufmerksamkeit als heute gebaut.

Frage: Können Sie Beispiele nennen für sakrale Bauten, die an solchen Orten entstanden sind?

Rio: Eigentlich sind fast alle mittelalterlichen Kathedralen wie auch der Kölner und Speyrer Dom auf besonderen Plätzen gebaut. Bei einigen hat die Forschung gezeigt, dass es dort unterirdische Wasseradern gibt. Von zentraler Bedeutung ist auch die Asymmetrie vieler Kirchenbauten. In einem Gebäude, das in dem Streben nach Harmonie und Vollkommenheit errichtet wurde, überrascht das. Solche Asymmetrien zeigen sich bei vielen Gebäuden etwa am Nord- und Südportal; eigentlich müssten diese genau gegenüberstehen. Aber unsere Vorfahren haben die Gebäude an den unterirdischen Wasseradern ausgerichtet; die Energie des Ortes war für sie wichtiger als die Symmetrie. Auch über besondere Lichteffekte wie bei den gotischen Glasfenstern der Kathedrale Notre-Dame von Chartres können wir heute nur staunen.

Das Bild zeigt die Kirche im Jahr 2005.
Bild: ©KNA

Der Kölner Dom: Sein Standpunkt dürfte wohl kein Zufall gewesen sein.

Frage: Welche Bedeutung haben vor diesem Hintergrund Pilgerwege? Entstanden auch sie entlang besonderer Orte?

Rio: Damit habe ich mich nicht näher auseinandergesetzt. Der Psychiater Carl Gustav Jung ging davon aus, dass jeder Ort ein Spiegel von Teilen unserer Seele und unserer inneren Welt ist. Deshalb führt das Gehen oder Pilgern zu einer Kathedrale oder einem Heiligtum zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst. Jeder Ort auf der Strecke weckt eine gewisse Resonanz in unserer inneren Welt, die diesen Prozess unterstützt.

Frage: Viele halten das alles für Esoterik oder längst widerlegten Aberglauben. Warum werben Sie für mehr Offenheit für dieses wissenschaftlich - vielleicht noch - nicht beweisbare Thema?

Rio: Durch meine Erfahrungen in über hundert Beratungen habe ich bemerkt, dass Orte tatsächlich einen Einfluss auf unser Leben haben - auf unsere Beziehungen, unseren Erfolg, unsere Gesundheit. Eine Auseinandersetzung mit den Orten erscheint mir sinnvoll, schließlich verbringen wird dort viel Zeit. Wenn wir die Essenz eines Ortes kennen, können wir deren gute Energie nutzen.

Als Historikerin sage ich: Wir sollten mehr Demut vor dem Wissen unserer Vorfahren haben. Es schlummert viel Wissen in alten Büchern, die wir noch nicht in unsere heutige Sprache und in die Sprache der Wissenschaft übersetzt haben. Ich wünsche mir eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, auch mit Naturwissenschaftlern. Dann könnten wir vielleicht eher verstehen, warum bestimmte Dinge an gewissen Orten geschehen.

von Angelika Prauß (KNA)

Buchtipp

Roberta Rio: Der Topophilia Effekt. Wie Orte auf uns wirken, edition a, Wien 2020, 255 Seiten, 22 Euro.