Interview mit Mediziner und Buchautor Harald Krauß

Seelische Gesundheit: Jedes "eigentlich" ist ernst zu nehmen

Bonn - Die dunkle Jahreszeit drückt auch auf unser Gemüt. Psychiater und Neurologe Harald Krauß kennt Wege, wie Menschen ihrer Seele etwas Gutes tun können – und weiß, wie wichtig es ist, Vorzeichen nicht zu ignorieren. Ein Interview.

Veröffentlicht am 22.11.2021 – Spiritea

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Nicht nur in der dunklen Jahreszeit leiden viele Menschen unter Depressionen und psychischen Problemen. Eine Hilfestellung, wie Menschen ihrer Seele Gutes tun und wieder zu mehr Lebensfreude finden können, hat der Psychiater und Neurologe Harald Krauß geschrieben. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erklärt der Chefarzt der Klinik für Seelische Gesundheit am Marien Hospital in Dortmund, wie wichtig es ist, auf die leisen Töne der Seele zu hören.

Frage: Herr Dr. Krauß, Ihr Buch ist der "seelischen" Gesundheit gewidmet. Was unterscheidet die Seele von der Psyche?

Krauß: Oft werden die Begriffe synonym verwendet. Manche definieren die Seele als etwas über die Psyche und den Menschen Hinausweisendes, etwas Spirituelles. Gerade Spiritualität ist für viele Menschen eine wichtige Kraftquelle im Leben.

Frage: Woran erkennt man, dass die eigene Seele leidet?

Krauß: Das Problem ist: Viele Menschen merken das oft gar nicht oder erst, wenn es fast zu spät ist. Sie sagen: "Eigentlich müsste es mir doch gut gehen...". Dieses "eigentlich" zeigt, dass da etwas zu fehlen scheint. Sonst würden sie ja sagen: "Es geht mir gut, ich bin glücklich; alles ist so, wie ich es mir wünsche". Deshalb werde ich bei jedem "eigentlich" hellhörig - dahinter stehen eine Frage oder ein Suchen, die es ernstzunehmen gilt.

Frage: Können Sie das näher erklären?

Krauß: Viele Menschen merken das auch körperlich: Sie sind zunehmend erschöpft und brauchen länger, sich zu regenerieren. Sie essen zu viel, greifen regelmäßig zu Alkohol. Sie haben im übertragenen Sinn Hunger, werden sie aber nicht wirklich satt.

Ein Zeichen ist auch, dass man versucht, noch mehr vom Gleichen zu tun - noch mehr Geld verdienen, noch mehr Reisen -, ohne dass es einen wirklich befriedigt. Man hat trotz aller Kicks ein schales Gefühl, das in einer Depression enden kann. Viele irritiert das. Sie sagen: "Ich habe doch alles - eine einfühlsame Partnerin, Kinder, einen tollen Job, ein schönes Haus..." Und dann kommt wieder das "Eigentlich müsste es mir doch gut gehen...." Aber es geht den Menschen nicht gut.

Ein Mann mit Aktenkoffer und ein langer Schatten
Bild: ©picture alliance (Symbolbild)

"Eigentlich geht es mir gut": Bie jedem "eigentlich" müssen wir hellhörig werden, betont Harald Krauß.

Frage: Warum hat die Seele so einen schweren Stand, sich Gehör zu verschaffen - im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen?

Krauß: In unserer Gesellschaft werden körperliche Krankheiten besser akzeptiert. Ein gebrochenes Bein wird geröntgt, man kann den Bruch sehen, es kommt ein Gips drum, den jeder sehen kann wie die Krücke, die ich benutze.

Bei seelischen Problemen ist das nicht so einfach. Sie sind nicht so greifbar und sehr im subjektiven Erleben verhaftet. Weil man Menschen nicht ansieht, dass es ihrer Seele schlecht geht, wird ihr Leiden zu Unrecht als nicht so gravierend angesehen wie ein körperliches Gebrechen.

Frage: Wie kommt man raus aus dem Hamsterrad, das einen gar nicht zum Innehalten und Nachdenken kommen lässt?

Krauß: Wenn sich die Menschen in dem Hamsterrad des Alltags gefangen fühlen, laufen sie immer schneller und schneller. Hamster purzeln irgendwann aus dem Rad raus, weil sie die Geschwindigkeit nicht mehr halten können.Bei uns Menschen ist das im übertragenden Sinne auch so.

Wir müssen unsere Bedürfnisse ernstnehmen und uns fragen: Worum geht es eigentlich in meinem Leben? Ich habe vielleicht einen tollen Job - aber ist es wirklich das, was mich ausmacht, was mir im Leben wichtig ist und was ich erreichen möchte? Oder bin ich einem Ziel gefolgt, das andere vorgegeben haben? Viele resignieren auf ihrem Lebensweg - geben sich damit ab, dass sie halt ihr Geld verdienen, davon in den Urlaub fahren und ihre Brötchen bezahlen können. Über diese dumpfe Mittelmäßigkeit vergessen sie irgendwann, was ihnen im Leben wichtig ist.

Frage: Wie kann man lernen, im Getöse des erschöpfenden Alltags auf die eher leise Stimme der Seele zu hören?

Krauß: Ich bitte meine Patienten gerne, sich das Ende ihres Lebens vorzustellen und sich folgende Fragen zu stellen: "Was in meinem Leben war toll, wofür hat es sich gelohnt zu leben?" Relativ schnell kommen Sätze wie "Meine Kinder waren mir wichtig", "die tollen Begegnungen, die ich im Leben hatte" oder "dass ich anderen Menschen helfen konnte war eine tolle Erfahrung". Die Menschen merken relativ schnell, was im Leben wirklich wichtig ist - und was sie vielleicht bisher vernachlässigt haben.

„Mutter Teresa hatte den Vorsatz, allen Kindern in Kalkutta zu helfen. Selbst, wenn ich es nicht schaffe, allen Kindern in Kalkutta zu helfen, dann schaffe ich es vielleicht, fünf, zehn oder 100 Kindern zu einem besseren Leben zu verhelfen - und das gibt meinem Leben einen tiefen Sinn; die Seele braucht solche Visionen.“

Frage: Sie sprechen von einem "Fixstern", den jeder haben sollte...

Krauß: Ein Fixstern ist Ziel, eine Vision, die weit weg ist und gar nicht erreicht werden kann und muss. Aber so ein Fixstern gibt Orientierung. Mutter Teresa hatte den Vorsatz, allen Kindern in Kalkutta zu helfen. Selbst, wenn ich es nicht schaffe, allen Kindern in Kalkutta zu helfen, dann schaffe ich es vielleicht, fünf, zehn oder 100 Kindern zu einem besseren Leben zu verhelfen - und das gibt meinem Leben einen tiefen Sinn; die Seele braucht solche Visionen.

Frage: Wenn es ihrer Seele schlecht geht, meinen viele Menschen, sich etwas Gutes zu tun, wenn sie Schokolade oder Alkohol zu sich nehmen oder shoppen gehen. Eine gute Idee?

Krauß: Das alles macht tatsächlich etwas glücklicher, aber nicht glücklich. Und leider nur kurzfristig. Es gibt mir vielleicht vorübergehend ein gutes Gefühl, wenn ich ein neues Auto oder eine schicke Tasche gekauft habe. Auch wenn ich Schokolade esse, kann das ein toller Moment voller Genuss sein - aber er hält nicht an.

Ganz anders sieht es aus, wenn ich konsequent auf dem Weg zu meinem Fixstern bleibe. Das stärkt das Gefühl von Selbstwirksamkeit, denn dann werde ich auch kleinere oder größere Erfolgserlebnisse gehabt haben, von denen ich noch meinen Enkeln erzählen kann. Sie sind erfüllend und lassen die Seele jubilieren.

Frage: Sie plädieren auch für gesunden "Eigensinn". Was verstehen Sie darunter?

Krauß: Es geht sicherlich nicht darum, egoistisch zu werden und egozentrisch durch die Welt zu gehen. Vielmehr geht es einen achtsamen Umgang mit mir. Denn dann gehe ich auch achtsam mit den Menschen in meinem Umfeld und mit der Schöpfung um.

Wenn ich über einen gesunden Eigensinn verfüge, stelle ich mir die Frage: "Bringt mir das jetzt was? Bringt mich eine Sache weiter?" Ich nenne gerne das Beispiel von Konferenzen, auf denen alles von allen schon gesagt wurde und sich dennoch alles nur noch im Kreis dreht. Da sollte man sich ehrlich fragen: Will ich meine Zeit da noch absitzen? Oder habe ich den Mut zu sagen: "Es ist schon alles gesagt, ich gehe jetzt!" Das mag manchem aufstoßen, aber die meisten Kollegen werden sagen: "Das hat der richtig gemacht". Dann habe ich mehr Zeit, die Dinge zu tun, die wirklich wichtig sind.

Frage: Es kommt also auch darauf an, die richtigen Prioritäten zu setzen?

Krauß: Genau. Natürlich gibt es Dinge wie die Steuererklärung, die gemacht werden müssen. Sie sind nicht verzichtbar, aber im Grunde genommen für mein Seelenheil unwichtig und unwesentlich. Deshalb sollte man sich gut überlegen, wieviel Zeit man für welche Tätigkeit investiert. Es kommt darauf an, die richtigen Prioritäten zu setzen. Dann habe ich mehr Zeit, mich selbstbestimmt um die Dinge zu kümmern, die für mich wirklich wesentlich sind. Unsere Seele freut sich darüber, wenn wir unser eigenes Potenzial zur Blüte bringen.

von Angelika Prauß (KNA)