Ein herausfordernder innerer Prozess

Die besondere Kraft der Vergebung

Bonn - Immer wieder tun uns andere Menschen weh – physisch wie psychisch. Dann Vergebung zu üben, ist eine Herausforderung. Aber sie lohnt sich. Denn vergeben zu können, hat Vorteile.

Veröffentlicht am 27.12.2021 – Spiritea

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Die Comedienne Sarah Millican erzählt in einem ihrer Programme diese einprägsame Geschichte: Aus heiterem Himmel erhält sie eine lange Mail von einer gewissen Lynn, die sich als eine ihrer ehemaligen Mitschülerinnen zu erkennen gibt und sich freut, nun mit jemand Berühmtes zur Schule gegangen zu sein. Nun würde sie gerne wieder in Kontakt kommen und sich mal wieder treffen. Millican nimmt diese Mail mit einiger Verwunderung zur Kenntnis: Denn besagte Lynn hat sie in der Schule gemobbt und ihr das Leben zur Hölle gemacht. Letztendlich endet die Geschichte damit, dass Millican eine kurze Notiz zurückschickt: "Hallo Lynn, um ehrlich zu sein: Ich werde wahrscheinlich nicht ausführlicher antworten, weil ich keine guten Erinnerungen an dich habe." Sie hat es ihrer Mobberin gezeigt, auch nach so vielen Jahren.

Diese kleine Episode erzählt viel über das Thema Vergebung. Das Christentum hat da ziemlich hohe Ansprüche: "Ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!", heißt es im Kolosserbrief (3,13). Im Vaterunser wird gebetet: "...und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Vergeben soll man also – und zwar allen.

Wie es schon die Geschichte von Sarah Millican zeigt, ist das im Alltag nicht immer so einfach. Es gibt einfach Menschen, denen will man nicht vergeben – oder man ist schlicht noch nicht dazu in der Lage, zu tief sitzt der Schmerz.

Versöhnung und Vergebung

Um sich der Vergebung zu nähern, ist es erst einmal wichtig zu wissen, was Vergebung nicht ist: nämlich Versöhnung. Wenn sich zwei (oder mehr) Menschen versöhnen, haben oft alle Beteiligten Fehler gemacht, die sie sich gegenseitig vergeben und nun gemeinsam weitermachen wollen, die Vergangenheit wird mehr oder weniger hinter sich gelassen. Bei der Vergebung ist das etwas anders: Die Tat, um die es geht, hält man immer noch für schlecht und sie ist im eigenen Leben mit ihren Auswirkungen nach wie vor relevant. Darauf spielt ja auch Millican an. Der Elefant steht also noch im Raum. Der Schritt der Vergebung ist es dann, diese Tat anzunehmen, die Motive oder die Lebenssituation des anderen zu erforschen und zu verstehen und auf diese Weise von weiteren Vorwürfen abzusehen.

Bild: ©ANSA/picture alliance/dpa

Erstes Bild von Papst Johannes Paul II. im Krankenhaus nach dem Attentat, bei dem ihn der Türke Mehmet Ali Agca am 13. Mai auf dem Petersplatz in Rom mit mehreren Schüssen schwer verletzte.

Es gibt keine allgemeingültige Definition von Vergebung. Man könnte unter anderem darüber diskutieren, ob für Vergebung Reue des anderen oder der Wunsch nach Entschuldigung wesentlich sind. Das Entscheidende ist aber der innere Prozess: Selbst Abstand von einem Sachverhalt zu nehmen, weiterzugehen, ohne erlittene Verletzungen zu ignorieren oder kleinzureden. Das hat viel mit Einfühlungsvermögen in denjenigen zu tun, die oder der einem weh getan hat – ist also als Bereitschaft schon ein entscheidender Schritt.

Vergebung schon am Krankenbett

Vergebung ist so schwer – und doch spielt sie in der Bibel und der Kirche eine große Rolle. Papst Johannes Paul II. vergab Mehmet Ali Ağca noch auf dem Krankenbett, nur kurz nachdem dieser auf ihn geschossen hatte. Vergebung für jemanden, der einen töten wollte – wofür soll das gut sein?

Der Versuch einer Antwort darauf hat unter anderem etwas mit innerem Gleichgewicht zu tun. Durch Vergebung bleiben schwere Taten schwer, aber sie liegen nicht mehr im Weg. Man versucht, die Rückwärtsgewandheit in eine Vorwärtsgewandheit zu verwandeln. Nicht (nur) für den anderen, sondern für sich selbst. Vergebung ist ein Schritt nach vorn, der Abwurf von Ballast. Und damit ein heilsamer Prozess. Dabei kann auch der Blick nach oben hilfreich sein: sich Kraft holen, trotz allem dankbar sein, sich besinnen und die innere Mitte finden. Nicht umsonst gibt es da immer noch diese eine ganz große Vergebung: Im Christentum steht die Vergebung der Sünden durch Jesus Christus im Mittelpunkt. Denn Vergebung schafft Raum für Neues, für mehr. Auch mit Blick auf eine ganze Gesellschaft. Sie ist eine Form der Überwindung von Kapiteln im Leben, die weniger gut gelaufen sind. Für beide Seiten.

von Christoph Paul Hartmann