Das Kreuz: ein Zeichen der Provokation – und so vieles mehr
Picture: © Privat
Über ein vielseitiges Symbol

Das Kreuz: ein Zeichen der Provokation – und so vieles mehr

Jerusalem - Am Kreuz in ihrem Zimmer läuft Schwester Gabriela oft achtlos vorbei. Und doch ist es zum Kostbarsten in diesem Raum geworden. Es steht für Hoffnung – ist aber ursprünglich ein Hinrichtungsinstrument. Kann so ein Kreuz schön sein?

Veröffentlicht am 14.02.2022 – Spiritea

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In meinem Zimmer habe ich ein Kreuz. Es steht in Augenhöhe auf einem Regal, angelehnt an die Wand. Mehrmals am Tag gehe ich achtlos daran vorbei, viel zu selten schaue ich es ganz bewusst an; mal bittend, mal hoffend, mal verzweifelt, mal dankbar, mal überglücklich. Es ist ein schillerndes Kreuz, etwa 20 cm hoch, gestaltet mit Mosaiksteinen aus Baumaterial in Braun- und Goldtönen. Ich habe es von jemandem geschenkt bekommen, der es beim Aufräumen gefunden hatte und es nicht einfach wegwerfen wollte.

Für mich persönlich ist dieses Kreuz zum Kostbarsten in meinem Zimmer geworden. Denn schon ein kurzer Blick darauf stimmt mich zuversichtlich und gibt mir Hoffnung. Je nach Lichteinfall funkeln die Mosaiksteine und lassen mich an die Frohe Botschaft des auferstandenen Christus denken, an die ich glaube. Ich finde das Kreuz schön und schaue es gern an. Und doch ist und bleibt es ein Kreuz, kein Schmuckstück, kein nettes Deko-Objekt, sondern ursprünglich ein Hinrichtungsinstrument. Kann so ein Kreuz schön sein?

Auch negative Konnotationen

Mit Schaudern erinnere ich mich an ein Kreuz, das ich als Jugendliche zuhause bei einer Schulfreundin gesehen habe. Es hing an der Wand des Esszimmers, in der Ecke über dem Tisch. Von dort oben schaute ein Jesus mit Dornenkrone vom Kreuz herab, angenagelt ans schmale Holz und fast vollständig überströmt mit roter Farbe. Trotz der freundlichen Gastgeberin haben der aufgetischte Kakao und Kuchen bei mir bis heute einen schalen Beigeschmack hinterlassen.

So ein Kreuz provoziert und schockiert. Von der schockierenden Tatsache der Kreuzigung Jesu künden die Passionserzählungen der Evangelien genauso wie bluttriefende Kruzifixe oder moderne Splattermovies. Den Schriftworten nach ist Jesus leider kein "Superman", der sich in letzter Sekunde aus dem Schlamassel befreien kann oder von unsichtbarer Hand gerettet wird. Er war einer von tausenden (vermeintlichen) Schwerverbrechern der Antike, über die die Kreuzigungsstrafe verhängt worden ist. Jesus "hatte einen dreckigen Tod zu sterben" (G. Bachl), von Menschenhand ihm zugefügt. Daran kann man auch als Christin und Christ nichts schönreden, man muss es ertragen. Manchmal könnte man schreien vor Wut, allein beim Gedanken daran.

Ein gekreuzigter Christus hängt an einem Kruzifix in der Jesuitenkirche Il Gesu in Rom.
Bild: ©katholisch.de (Symbolbild)

Ein Kreuz zeigt die Grausamkeit, die Jesus widerfahren ist.

Andere verstummen genau deshalb vor dem Kreuz. Es macht sie sprachlos angesichts des Leids und der Grausamkeit, die Jesus bis zum bitteren Ende ausgehalten hat und die auch wir aushalten müssen, wenn auch nur in Gedanken. Erst seit dem Mittelalter war es erlaubt, den leidenden, toten Christus, angenagelt ans Kreuz darzustellen. Mit-Leiden und Mit-Leid werden bei diesem Anblick nicht länger nur zu schönen Floskeln. Im Kirchenjahr ist dafür ein ganz bestimmter Tag reserviert: der Karfreitag. An diesem Tag wird der Gekreuzigte in der Karfreitagsliturgie als ein Mensch enthüllt, der qualvoll leidet und stirbt, Frohe Botschaft hin oder her. Da hängt einer hilflos am Kreuz, dem Spott der Leute ausgeliefert, nackt, seiner Kleider beraubt, zum Schämen. Das ist damals wie heute ein Skandal, und man selbst muss sich der Frage stellen, auf welcher Seite man damals wohl gestanden hätte. Es fehlen einem die Worte, genauso stumm bleiben am Karfreitag die Glocken und die Orgel beim Gottesdienst. Selten sind wir all den Verzweifelten, Ausweglosen und Ohnmächtigen so nahe wie an diesem Tag, wenn wir auf den Gekreuzigten schauen, der da festgenagelt ist jenseits aller Kriterien von Macht, Erfolg und Reichtum.

Auch ein Symbol der Hoffnung

Trotz seiner dunklen, erdrückenden Symbolik ist das Kreuz heute auch Symbol der Hoffnung. Es hat Karriere gemacht und ist aufgestiegen zum Erkennungszeichen des christlichen Glaubens. So gibt es dieses Kreuz in unseren Kirchen, Wohnungen und Geschäften in unzähligen Ausführungen: schillernd, vergoldet, versilbert, bunt bemalt, in den Farben des Regenbogens, kunstvoll gestaltet aus lichterfülltem Glas, auf Leinwand gesprayt oder selbst gebastelt, aus Stoff, als Ohrring, Hals- oder Bischofskette, mit und ohne Christus-Corpus. Nicht zu vergessen den Gekreuzigten mit Gasmaske, den provokativen Frosch am Kreuz oder den Gekreuzigten mit Eselskopf. Den Esel am Kreuz zeigt ein Graffito in Rom, datiert etwa auf das Jahr 200 nach Christus und gut erhalten, da mit einem Nagel in die Wand geritzt. Links von diesem Gekreuzigten mit dem Eselskopf ist ein Junge in Gebetshaltung dargestellt, daneben stehen die griechischen Worte: "Alexamenos betet seinen Gott an." Ein schönes Beispiel für antike Religionskritik: Da wird ein Esel als Gott verehrt – was muss das für dummer Esel sein, der so jemanden anbetet!

An all das und vieles mehr denke ich, wenn ich vor meinem Mosaikkreuz bete und es dabei anschaue. Es stimmt, es brauchte seine Zeit, bis das Kreuz und Jesus Christus als Gekreuzigter von der Provokation über das Spottsymbol zum salonfähigen Erkennungszeichen wurden. Es brauchte Jahrhunderte, um über die Schockstarre des gekreuzigten Erlösers hinweg zu kommen und in diesem Zeichen die Frohe Botschaft des Auferstandenen zu sehen. Erst ab dem 4. Jahrhundert ist das Kreuz als symbolisches Zeichen der Christen nachweisbar, zunächst als blanke Form zweier gekreuzter Linien. Als Symbol des von den Toten erweckten Christus prägte es bald den Grundriss früher Kirchen und ließ den Christus-König der Romanik triumphieren, erhobenen Hauptes mehr am Kreuz stehend als hängend.

Ich kann nachvollziehen, dass das Kreuz für manche – nach wie vor – ein Zeichen der Provokation ist, das sie als Störfaktor in einer heilen Welt sehen und am liebsten als Zeichen aus dem öffentlichen Raum verbannen möchten. Wenn ich jedoch als Christin auf das Kreuz schaue, dann sehe ich darin Jesus als den, der den Schmerz, den Tod, das Schlimmste in der Welt überwunden hat, weil er nach drei Tagen auferstanden ist. Diese Hoffnung auf Gott, der für mich Mensch geworden, gestorben und auferstanden ist, lasse ich mir nicht nehmen. Lieber setze ich alles daran, sein Kreuz genau deshalb zu einem strahlenden Glaubenssymbol in unserer Welt werden zu lassen.

von Schwester Maria Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über  Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.