Jeder hat sein Kreuz zu tragen: Wie wir Trost finden können
Jerusalem - Den Leidensweg Jesu nachgehen: Das tut man bei Kreuzwegen. Manchmal beschweren wir uns, welche Lasten wir zu tragen haben. Schwester Gabriela Zinkl beschriebt ihre Beobachtungen aus Jerusalem – und sieht Möglichkeiten, Trost zu finden.
Veröffentlicht am 28.03.2022 – SpiriteaHTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
So langsam laufen die Geschäfte wieder an bei Mazen Kanaan, dem Kreuz-Verleiher in Jerusalem. Kreuz-Verleiher? Ja, man kann ihn tatsächlich so nennen. Schon sein Großvater hat in der Jerusalemer Altstadt kleine und große Holzkreuze zum Ausleihen gegen eine freiwillige Spende angeboten. Mazen führt das bis heute fort, auch wenn in der Zeit der Pandemie fast keine Gäste ins Heilige Land einreisen konnten und die Nachfrage nach seinen Kreuzen gleich null war. Doch jetzt in der Fastenzeit und vor den Kar- und Ostertagen steigt das Interesse daran wieder, die Grenzen sind offen, erste Gästegruppen trauen sich wieder ins Heilige Land. Mazen hält für sie fast 100 Kreuze bereit, die man für eine halbe Stunde oder länger ausleihen kann; sie sind zwischen ein bis drei Meter hoch, meistens gefertigt aus Orangenbaumholz, einige wenige von Olivenbäumen.
Für seine Kreuze interessieren sich vor allem christliche Pilger, die auf den Spuren Jesu den "Kreuzweg" entlang der Via Dolorosa gehen möchten. So heißt heute der Fußweg, der sich im Gedenken an den Weg Jesu Christi von der Verurteilung durch Pontius Pilatus bis zur Kreuzigung und Grablegung über 600 Meter lang mitten durch das Gewirr der engen Gassen der Jerusalemer Altstadt zieht. Bis ins Mittelalter zurück reicht die Tradition hier und in der ganzen Welt, den Leidensweg Jesu im Gebet nachzugehen. Es ist weniger ein Gehen, bei dem man auf die historischen Fußspuren Jesu trifft, das ist heute nach 2.000 Jahren sowieso nicht mehr möglich, sondern das Ganze möchte zu besinnlicher Vertiefung auf dem Weg zur Kreuzigung Jesu einladen. "Via Dolorosa", auf Deutsch "Weg der Schmerzen" oder "Schmerzhafter Weg", steht dort auf den Straßenschildern der Jerusalemer Altstadt in Lateinisch, Hebräisch und Arabisch geschrieben. Wer dem gut ausgeschilderten Weg folgt, kommt vom Löwentor gegenüber dem Ölberg im Osten der Stadt bis auf das Dach und in das Innere der Grabes- oder Auferstehungskirche im Zentrum. Der Weg führt im Zickzack durch enge Gassen, unter historischen Torbögen hindurch, über Stufen hinauf und an dicken Mauern vorbei. Unterwegs wird man in allen Sprachen der Welt begrüßt und umworben von orientalischen Teppich- und Antiquitätenhändlern, von Bars mit Granatapfelsaft und von Ladeninhabern, die wahlweise exotische Gewürze, Rosenkränze, Dornenkronen, Postkarten oder anderen Krimskrams feilbieten.
Mitten in diesem orientalischen Basar mit seinen typischen Düften, Geräuschen und all dem Trubel gibt es aber auch noch etwas anderes. Alle paar Meter kann man an den Hauswänden runde Metalltafeln in Augenhöhe sehen, die mit einer römischen Zahl die jeweilige Station des Kreuzwegs markieren. Gleich daneben gibt es ein kleines Bronzerelief, das das dazu passende Geschehen Jesu auf dem Weg zu seiner Kreuzigung auf der Anhöhe Golgotha (auch: Kalvaria) abbildet. Vierzehn Wegstationen hat der Kreuzweg hier in der Jerusalemer Altstadt, zwei mal sieben, die heilige Zahl also im Doppel, genauso viele Stationen gibt es in den Kirchen auf der ganzen Welt, oft sind sie an den Außenwänden des Kirchenraums zu finden, manchmal auch im Freien, als Stationenweg einen kleinen Berg (oft Kalvarienberg) hinauf oder einen Feldweg entlang. Während in Jerusalem, der heiligen Stadt Jesu, das ganze Jahr über Saison ist, den Kreuzweg zu beten und zu Fuß nachzugehen, vor allem jeden Freitag als Prozession, passiert das in den katholischen Kirchen in aller Welt vor allem in der Fastenzeit, besonders in der Karwoche. In dieser Zeit vor Ostern finden jede Woche Kreuzwegandachten statt, die sich an den 14 Stationen orientieren und bei denen man betend und singend den Kreuzweg Jesu in Erinnerung ruft und das Geschehen, zum Teil orientiert an Bibelstellen, meditiert. Der jährlich stattfindende Ökumenische Kreuzweg der Jugend in der Karwoche überträgt diesen Leidensweg Jesu ganz konkret in Wegstationen durch den eigenen Wohnort, ähnlich wie der Kreuzweg des Heiligen Vaters, den er für die ganze Welt am Karfreitag im Kolosseum betet.
Dabei wird oft ein Kreuz mitgetragen, mal ein kleines Vortragskreuz der Kirchengemeinde, das der Prozession vorausgeht, mal ein riesiges Holzkreuz mit Längs- und Querbalken, das man allein gar nicht tragen kann, sondern von mehreren gemeinsam getragen wird.
"Manche wollen es leicht, manche aber auch richtig schwer"
Solche Kreuze in verschiedenen Größen hält auch Mazen, der Kreuzhändler an der Via Dolorosa nahe der ersten Wegstation, zum Ausleihen bereit. Das Leichteste wiegt 15 Kilo, das Schwerste rund 45 Kilo. "Manche wollen es leicht, manche aber auch richtig schwer", sagt er mit einem Lächeln. Seine Worte erinnern an eine Legende aus dem Mittelalter, die auch im Religionsunterricht oft erzählt wird: Ein Mensch beklagte sich bei Gott über sein zu schwerem Kreuz, das er zu tragen hat. Gott führte ihn in einen Raum, wo alle Kreuze der Welt aufgestellt waren, und forderte ihn auf, ein neues Kreuz für sich auszuwählen. Der Mensch machte sich auf die Suche. Erst liebäugelte er mit einem ganz dünnen, merkte aber dann, dass es dafür länger und größer war als andere. Als nächstes sah er ein ganz kleines Kreuz, aber als er es aufheben wollte, war es schwer wie Blei. Dann sah er eines, das ihm gefiel und er sofort auf seine Schulter legte. In dem Moment spürte er einen schmerzhaften Stich in der Schulter, kein Wunder, denn das Kreuz hatte genau an dieser Stelle eine scharfe Spitze. So hatte jedes Kreuz etwas Unangenehmes. Als er alle Kreuze durchgesehen hatte, hatte er immer noch nichts Passendes gefunden. Dann entdeckte er eines, das er bis dahin übersehen hatte. Als er es ausprobierte, war es nicht zu schwer, nicht zu leicht, so richtig handlich, wie geschaffen für ihn. Dieses Kreuz wollte er in Zukunft tragen. Und als er genauer hinsah, merkte er, dass es sein Kreuz war, das er bisher getragen hatte.
Manchmal würde frau und man gerne tauschen, vorübergehend ein leichteres Kreuz tragen, weniger Sorgen haben oder lieber einen ganz anderen Weg gehen als den, der einem vorgegeben ist. Dass da einmal ein Mensch war, der vor mir und für mich seinen unheimlich schweren Weg mit dem Kreuz gegangen ist bis zum Ende, kann ein unheimlicher Trost sein. So macht der Kreuzweg Jesu plötzlich Sinn, mit oder ohne Holzkreuz.
Die Autorin
Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.