Was sagen wir einem, der sowieso schon alles weiß?

Über das Beten: Du, Gott, wir müssen mal reden

Jerusalem - "Beten ist Reden mit Gott": Schwester Gabriela Zinkl fragt, was man jemandem sagen soll, der ohnehin schon alles weiß und wie man sich einem "Fremden" überhaupt anvertrauen kann. Aber sie ich sich sicher: Beten hilft.

Veröffentlicht am 25.04.2022 – Spiritea

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

"Da bist du ja", sag ich und drehe mich vom Fenster weg. "Ich kann nicht schlafen." "Das hab ich gemerkt", sagt Gott. Ich wende mich wieder zurück, wir stehen am offenen Fenster und schauen in den Nachthimmel. "Die Hüterin Israels schläft und schlummert nicht?", frag ich leise. "Nein", sagt Gott, "das tu ich nicht." "Ich hab gestern Abend noch Nachrichten geguckt", sag ich. Gott sagt nichts. "Und über allem der gleiche Himmel", sag ich nach einer langen Weile. "Und die Sterne, die über uns leuchten und nichts wissen von Krieg und Gewalt." Ich schaue kurz zu Gott herüber. Gott schaut weiter hoch zu den Sternen." Und nichts hilft", sagt Gott schließlich mit Tränen in der Stimme. "Es geschieht, und es sind doch meine Kinder, und ich kann sie nicht daran hindern." Gott weint. "Und es sind so viele, weißt du", sagt Gott, als Gott wieder sprechen kann. "Und ich kenne doch ihre Namen und ihre Träume, und ich habe es nicht verhindern können, das Sterben nicht und das Weiterlebenmüssen auch nicht" (aus: Annette Jantzen, Wenn Gott zum Kaffee kommt, 2022).

Sowas! Von Gott und einer nicht näher genannten Person ist da die Rede. Als sie nachts nicht schlafen kann und am Fenster steht, tritt Gott hinzu und spricht mit ihr. Als ob er nichts Besseres zu tun hätte, bei jemandem vorbeizuschauen und dessen Probleme zu wälzen? Ist das nicht einfach nur ein Selbstgespräch, ein Hirngespinst oder eine krankhafte Halluzination?

Per "Du" mit einem "Unbekannten"

"Beten ist Reden mit Gott", sagen die Lexika, Ratgeber und weisen Frauen und Männer quer durch alle Weltreligionen. Erstaunlicherweise sind sie sich darin alle einig. Dann scheint also doch etwas Wahres dran zu sein an diesem Dialog zwischen Gott und einem Menschen in einer schlaflosen Nacht. Ist das tatsächlich schon "Beten"? Und überhaupt, ist man mit Gott per Du, auch wenn man ihn gar nicht kennt?

Bild: ©Fotolia.com/francesco chiesa (Symbolbild)

Können wir Gott mit "Du" ansprechen?

Einer der beliebtesten und bekanntesten Texte des Alten Testaments ist ein Gebet, Jahrtausende alt. Psalm 139 wird von Generationen von Menschen im Judentum und Christentum bis heute gelesen, nachgesprochen, gebetet und gesungen. Dort, wie in vielen anderen Texten und Gebeten auch, wird Gott selbstverständlich mit "Du" angesprochen.

„Herr, du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern. Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. Du bist vertraut mit all meinen Wegen. Ja, noch nicht ist das Wort auf meiner Zunge, siehe, Herr, da hast du es schon völlig erkannt. Von hinten und von vorn hast du mich umschlossen, hast auf mich deine Hand gelegt.“ (Psalm 139,1-5)

Ein liebevolles Gegenüber

Egal, ob man das laut oder leise liest, es ist nicht zu übersehen, dass da von einem sehr liebevollen Gegenüber die Rede ist. Gott wird beschrieben als einer, der mich kennt und von mir weiß. Das heißt nicht, dass er ein Kontrolleur, Marionettenspieler oder eine Überwachungskamera ist, also etwas, vor dem man beobachtet oder ferngesteuert wird. Nein, die Stimme, die den Psalm betet, hat keine Angst vor Gott, sondern ganz großes Vertrauen in ihn. Wenn man den Psalm heute nachspricht, merkt man, wie zeitlos gültig seine Aussage ist: Gott ist für mich da, er hat mich geschaffen, ich bin nicht einfach durch Zufall auf der Welt, sondern ein wichtiges und einmaliges Bauteilchen seiner Schöpfung, ein Unikat. Umgekehrt hat Gott größtes Vertrauen in mich, er baut auf mich und meine Fähigkeiten. Wie stark er auf jeden einzelnen Menschen hofft, zeigen schon die Schöpfungsgeschichten am Anfang der Bibel.

Was soll man einem sagen, der doch sowieso schon alles weiß? Hat der Opa mit dem Rauschebart, wie auf manchen Kirchenfenstern dargestellt, oder der leidende Jesus am Kreuz denn wirklich ein offenes Ohr für mich und meine Nöte?

Jemand, der in einer schlaflosen Nacht neben mir am Fenster steht und die Sorgen mit mir teilt, das ist nichts anderes als eine moderne Interpretation der biblischen Erzählungen Jesu. Dort ist Gott wie ein barmherziger Vater, wie ein guter Samariter und wie die Frau, die Jesus die Füße mit Öl salbt. So ist Gott, all das ist er und noch viel mehr, er ist an meiner Seite und für mich da. Deshalb kann ich ihm mit ihm reden, wie es mir ums Herz ist und gerade so, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Ich kann ihm nichts vormachen. Und ich muss ihm nichts vormachen. Machen wir uns also nichts vor: Ich rede viel zu wenig mit Gott, denke gar nicht an ihn, aus dem Augen aus dem Sinn. Dann aber, wenn es mir schlecht geht, wenn alles andere nicht mehr hilft, dann plötzlich rufe ich ihn an wie eine Notrufnummer und hoffe auf eine Last-Minute-Wendung.

Die Vorteile des Betens

Wer betet, hat die Hoffnung, dass ihm geholfen wird – auch darüber sind sich übrigens alle Weltreligionen einig. Wer betet, wird ruhiger, gelassener, ausgeglichener, das beweisen zahlreiche wissenschaftliche Studien mit Ordensleuten und Meditierenden. Beten, also sich Zeit nehmen für Gott, mit ihm zu reden und auf ihn zu hören, verändert nicht immer meine Situation, aber es kann meine Einstellung verändern, zu Gott und zu meinen Mitmenschen. Das ist ja schon mal ein guter Anfang.

"Aber du wirst sie doch bewahren, oder", sag ich zögernd. "Ja", sagt Gott und wischt sich die Tränen von den Wangen. "Aber weißt du, wie schwer das wiegt? All die Angst und all die Ausweglosigkeit? Und all die Schuld auch?" Ich schweige.
(aus: Annette Jantzen, Wenn Gott zum Kaffee kommt, 2022)

von Schwester Maria Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über  Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.