Deutschlands erste "Biotop-Kirche" steht in Thüringen
Bonn - Fast wäre man achtlos daran vorbeigeradelt. Wäre ein Fehler gewesen. Denn im thüringischen Walldorf, direkt am Werratal-Radweg, liegt ein ziemlich spannendes Paradies für Fledermäuse und anderes Getier.
Veröffentlicht am 05.09.2022 – SpiriteaHTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Auf dem Werra-Radweg in Thüringen darf man sich überraschen lassen. Leuchtender Löwenzahn, Störche, Reiher und Ruinen wechseln sich ab mit Bauwerken ersten und mindestens zweiten Ranges. Zwischen Schmalkalden, dem emblematischen Örtchen der deutschen Reformationsgeschichte, und der thüringischen Karnevalshochburg Wasungen ("Woesinge Ahoi!") wäre man doch fast an einem Highlight vorbeigeradelt. Auf einem Felssporn an der Kreuzung zum Rhön-Rennsteig-Wanderweg liegt, dem Blick des Radlers leicht nach rechts oben entrückt, die Kirchenburg Walldorf.
Soll man absteigen – oder doch "Kilometer machen"? Lieber absatteln! Denn was von außen zwar pittoresk, aber doch ein bisschen kühl und abweisend aussieht, ist tatsächlich ein Ort des Willkommens. Die Frage, ob er für einen kurzen Blick die Kirche aufschließen würde, ist Pfarrer Otfried Heinrich quasi Befehl – auch wenn er eigentlich gleich einen Termin hat. Aus dem kurzen Blick entwickelt sich ein schönes Gespräch. Denn die Pfarrgemeinde von Walldorf hat das Willkommen in Artikel eins ihrer Kirchenverfassung.
Willkommen für Christen und Nichtchristen – aber auch für allerlei Getier der Schöpfung. Die Kirchenburg von Walldorf, 1587 erbaut und einst eine Fliehburg für die Bewohner des Dorfes, ist nämlich nach eigener Aussage Deutschlands erste "Biotop-Kirche", ist fledermaus- und auch sonst gastfreundlich.
2012 brannte die Kirche ab
Mit den Werra-Wiesen besitzt der 2.100-Einwohner-Ort ein großes Biotop. 2010 fassen die Walldorfer den Entschluss, durchziehenden Störchen eine Nisthilfe anzubieten. Die Wahl fiel auf die Kirchenburg. Auch Eulen und Fledermäuse wählen gerne Kirchen, Fabriken und Burgen als Wohnort.
Doch dann die Katastrophe: Am 3. April 2012 brennt die Kirche lichterloh. Zahlreiche Kunstschätze, viele davon Hunderte Jahre alt, werden vernichtet; die Innenausstattung, einheitlich im Renaissancestil nach 1650 gehalten: verloren. "Die Kirche sieht aus der Nähe so verheerend aus, dass viele Menschen in Tränen ausbrechen, Zeit brauchen, sich an den Anblick zu gewöhnen", schrieb der damalige Pfarrer, Heinrich Freiherr von Berlepsch.
Er bot den Menschen, die sich dem Ereignis stellen wollten, ganz bewusst Besichtigungen an. Denn: "Ich möchte unserer guten alten Kirche die Möglichkeit geben, Menschen direkt anzusprechen. Und sie redet tatsächlich, sogar ziemlich laut, fragt uns, wie wichtig sie uns ist, ob wir sie wiederhaben wollen, vor allem aber, was wir davon halten, dass sie uns verlorenging?" Ein Ereignis dieser Größenordnung, so der Pfarrer, "darf sich nicht auch geistig-theologisch in Rauch auflösen; es sollte Früchte tragen, sonst wäre unsere Kirche doppelt 'verpufft'".
Von Berlepsch, Spross eines weitverzweigten alten Adelsgeschlechts, sah in dieser Zäsur die Chance für einen Neuanfang, ein Umdenken. "Denkmalpflege" – nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Liegen wir mit unserem Kirche-Sein wirklich richtig, fragte er sich – und seine Gemeinde. Und die nahm die Herausforderung an. In der renovierten Kirche liegt heute ein anrührendes Foto, auf dem sich ein Brautpaar von hier im verkohlten Schutt das Ja-Wort gibt.
Neues Leben in der Kirchenruine
Und ein Zeichen setzten auch die Dohlen. 2012 "Vogel des Jahres", nahmen sie kurz vor dem Brand die Walldorfer Kirche als Brutplatz an. Etwa in den "Rüstlöchern": Maueröffnungen, in denen während der Bauzeit der Kirche im 16. Jahrhundert das Gerüst verankert war. Und schon wenige Tage nach dem Brand kehrten die Dohlen mit ihrem unverkennbaren Ruf "kjack" zurück. Zunächst schienen die Vögel kritisch ob ihrer verrußten Nisthöhlen. Doch, so der Pfarrer: "Sie waren die ersten, die neues Leben in die Kirchenruine brachten. Das hat mich so berührt, dass ich nicht nur den Menschen ihr Gotteshaus, sondern auch den Tieren ihre Brutstätten zurückgeben wollte." Die Idee einer Biotop-Kirche war geboren.
Heinrich von Berlepsch ist ein begeisterter Vogelkundler – in Familientradition: Hans von Berlepsch (1857-1933) ließ beim Umbau des Stammsitzes in Seebach an der Unstrut viele selbst entwickelte Niststeine ins Mauerwerk einbauen. Diese Konstruktionen sind heute weltweit als "Berlepsche Nisthöhlen" bekannt. Mit seiner Beharrlichkeit erwirkte er 1908 das erste Vogelschutzgesetz in Deutschland.
Unter der Walldorfer Kirchenburg gibt es viele Keller. Darin überwintern regelmäßig vier Fledermausarten: Mausohr, Braunes Langohr, Fransenfledermaus und Mopsfledermaus. Die Tiere halten dort Winterschlaf. Über mehrere Monate reduzieren sie ihren Stoffwechsel und zehren von ihren Fettreserven, weil es keine Nahrung in Form von Insekten gibt. Sie dürfen dabei nicht gestört werden, denn jedes Aufwachen verbraucht etwas von den wertvollen Energiereserven. Besonders störend sind offenes Feuer, Licht und Lärm.
Perfekt für Fledermäuse
"Die Keller bieten genau das, was die Fledermäuse im Winter brauchen: frostfreie und ungestörte Winterquartiere", so der verantwortliche Biologe Wigbert Schorcht. Dafür wurde die Kirchenburg vom Thüringer Umweltminister mit dem Titel "fledermausfreundlich" ausgezeichnet. 2012 flogen aus der lichterloh brennenden Kirche noch Fledermäuse aus und retteten sich in letzter Minute.
"Bauen und Brüten", so hieß das Konzept während des Wiederaufbaus. Das Biotop Kirchenburg sollte in dieser Zeit nicht brach liegen. Mittlerweile gibt es – auch durch Förderung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz – allein am Außenbau der Kirche mehr als 100 Einfluglöcher für Dohlen, Turmfalken, Mauersegler, verschiedene Singvögel, Bienen und Fledermäuse. Die Nistplätze sind so gestaltet, dass sie problemlos gereinigt werden können – wo die Tiere das nicht selbst erledigen.
Eine grüne Oase der Stille
Im Pfarrgarten, der als Bauerngarten gestaltet ist, tummeln sich Insekten und allerlei Getier und bereiten Vögeln und Fledermäusen einen reich gedeckten Tisch. Die Gemeinde hat sich bei der Anlage ganz auf den Speisezettel der Mitbewohner eingestellt: duftende Pflanzen wie Phlox und nektarreiche Sorten wie Malven für die Bienen, die schon seit Jahrzehnten die Sommermonate im Mauerwerk der Kirche verbringen. Entstanden ist eine grüne Oase der Stille, die zum Innehalten anregen und Pflanzen wie Tieren Raum geben soll.
Bei so viel Tierischem: Auch der Mensch stand natürlich beim Wiederaufbau im Mittelpunkt. Leitlinie sollte die "Zukunftsfähigkeit" der "Gemeindekirche" sein. Sehr symbolisch: Im Zentrum des hell, vielfarbig und ruhig gestalteten Kircheninneren steht ein Altar, der aus Brandbalken besteht. Die Pfarrkirche ist heute auch "Biotop-Kirche", eine "Kirche am Werra-Radweg" – und eine "Kinderkirchenburg", wo Kinder über Kirche hinaus auch das Leben mit der Natur kennen und schätzen lernen können. Der mit zehn Metern höchste Punkt der Außenmauer ist außerdem als Kletterwand für Free-Climber nutzbar.
Einer der Jungstörche von Walldorf heißt übrigens Bodo. Landesvater Bodo Ramelow kam im Juni 2019 zur Wiedereröffnung der renovierten Kirchenburg; und beim Anblick der Störche entfuhr ihm: "Ach nein, das haut mich ja um!" Auch beim Bundesfinanzministerium ist Walldorf inzwischen ein Begriff: 2023 erscheint die Kirchenburg auf einer Ein-Euro-Briefmarke.