"Kommt mit an einen einsamen Ort!"

Wenig Wellness, aber viel Begegnung: Allein-Sein in der Bibel

Bonn - Die Erholung und der Rückzug in die Einsamkeit scheitern in den Evangelien öfter, als sie gelingen. Katrin Brockmöller blickt in die Bibel – und stellt fest: Einsam oder allein zu sein wird dort offensichtlich weniger als Kraftquelle gesehen.

Veröffentlicht am 26.09.2022 – Spiritea

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Jesus selbst geht sowohl bei Lukas als auch bei Markus mehrfach allein an einen einsamen Ort (vgl. Mk 1,35; 6,31; Lk 4,42; 5,16), um zu beten. Den Jüngern scheint das nicht vergönnt: Die Menschen fahren mit Booten voraus und sind schon vor Jesus da (Mk 6,30-44). Kaum sind die Jünger mit Jesus in einem Haus, steht eine Frau mit einem Anliegen vor der Tür (Mk 7,24). Egal wie viele Menschen kommen, die Jünger werden getadelt, wenn sie Jesus vor dem Andrang schützen wollen (vgl. Mk 10,13-16) oder sich selbst zum falschen Zeitpunkt ausruhen (vgl. Mk 14,41). Gleichzeitig eröffnen der "einsame Ort" oder das "Alleinsein mit Jesus" aber genau den Begegnungsraum, in dem entscheidende Erfahrungen möglich werden.

Der "einsame Ort" wird zur "Wüste"

Als die Zwölf von ihrer ersten Aussendung zurückkommen, will Jesus mit ihnen an einen einsamen Ort gehen, damit sie sich erholen. Abgesehen von der Bootsfahrt bleiben sie aber nicht lange allein. Mk 6,30-44 erzählt, dass viele, viele aus allen Städten dorthin vorauslaufen. So landet schließlich eine große Anzahl von Menschen am abgelegenen, wörtlich: einsamen Ort (eremos topos). Jesus lehrt sie lange und schließlich erlebt die Menge ein Speisewunder. Es werden alle gesättigt und zwölf Körbe mit Brot bleiben noch übrig. Die Anspielungen an die Zeit der Wüstenwanderung, z.B. das Lagern in Gruppen, die Versorgung mit reichlich Nahrung (Manna) sind auffällig und schaffen eine deutliche Parallele: Der einsame Ort wird zur Wüste. Wie damals vor dem Einzug ins Land entwickelt sich das zusammengelaufene Volk neu zum Volk Gottes. Es erlebt göttliche Fürsorge in Wort und Brot.

Weiterbildung im kleineren Kreis

Die Jüngerinnen und Jünger bilden zusätzlich zum Volk eine herausgehobene Lerngemeinschaft. Neben dem öffentlichen Wirken, so erzählen es jedenfalls alle Evangelien, hat Jesus sie im internen Kreis weitergebildet. In diesem geschützten Raum vertiefen sich Erfahrungen und klären sich Fragen im Gespräch (vgl. z.B. Mk 4,10, 9,28). Drei der Jünger (Jakobus, Andreas und Petrus) erhalten die Chance zu außergewöhnlichen Erfahrungen. Sie dürfen mit auf den Berg, erleben dort die verklärte Gegenwart von Elija und Mose und hören die göttliche Stimme. Diese besondere Erfahrung im kleinen Kreis an einem "einsamen Ort" ohne die anderen wird zugleich zur Aufgabe. Die Jünger erleben zwar einen Blick in den Himmel, werden aber zugleich auf das Geheimnis von Leiden, Tod und Auferstehung vorbereitet (Mk 9,2-13).

Alleinige Ausrichtung auf Gott beim Beten

Eine weitere Facette von Alleinsein in den Evangelien zeigt sich in den Texten über das individuelle und gemeinschaftliche Gebet. Matthäus legt Jesus sehr kritische Worte in den Mund über Menschen, die ihre Gebete in der Öffentlichkeit zur Schau stellen (vgl. Mt 6,5-14). Wem es um "gesehen werden" geht, der hat seinen Lohn schon erhalten. Im Gebet soll nur Gott selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Alles, was von der Gottesverbindung wegführt, darf "gelassen" werden. So spiegelt es auch die Vergebungsbitte im Vaterunser, das sich bei Matthäus sofort anschließt: "…wie auch wir vergeben".

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Video: © Alpha Entertainment

Als Studentin wohnte Madeleine Spendier allein und fühlte sich so einsam, dass auch mal die Tränen flossen. Eigene kleine Rituale haben ihr geholfen. Heute lebt sie mit ihrer Familie zusammen – und ist dennoch dankbar für die Erfahrung der Einsamkeit.

Mit Jesus allein

Es gibt in den Evangelien weitere Erzählungen über Gespräche, bei denen jeweils nur eine einzige Person mit Jesus spricht. So können die Samaritanerin und Jesus am Brunnen eine gewisse Zeit allein intensiv miteinander sprechen (Joh 4,1-42). Die Frau wird nach dieser Begegnung zur Verkünderin des Messias, zur Apostelin für Samaria.  

Ähnlich intim ist die Szene mit Nikodemus gestaltet, der nachts zu Jesus kommt (vgl. Joh 3,1-21). Dieses Gespräch braucht zudem den Schutz der Nacht, sicher nicht nur, weil Nikodemus ein führender Vertreter der Pharisäer ist. Aus der Begegnung geht Nikodemus verändert nach Hause. Später wird er sich in Joh 7,10 und Joh 19,39 öffentlich zu Jesus bekennen.

Etwas anders ist die Szene mit der Ehebrecherin in Johannes 8,1-11 gelagert. Die Ehebrecherin wird im Tempel von einer Menge zu Jesus gebracht. Alles beginnt in großer Öffentlichkeit. Jesus führt in wenigen Sätzen den Anklägern ihre Scheinheiligkeit deutlich vor Augen. Am Ende bleiben Jesus und die Ehebrecherin allein zurück. Niemand hat gewagt, sie zu verurteilen. Jetzt ist Raum für den privaten Dialog zwischen Jesus und der Frau, Raum für die Zusage: "Auch ich verurteile dich nicht."

Auch Markus 7,31-37 erzählt davon, wie Jesus einen Kranken zur Seite nimmt, damit für die Berührung und die Gespräche ein geschützter Raum entsteht und keine weiteren Demütigungen stattfinden können. Die Berührung von Ohren und Zunge ist extrem nähebetont und wirkt auf uns heute oft irritierend. Jesus steckt dem kranken Mann die Finger in die Ohren und berührt mit Speichel seine Zunge. Für diese intime körperliche Begegnung braucht es einen Schutzraum, daher entfernt sich Jesus mit ihm von der Menge. Dieser kurze Moment des Alleinseins mit Jesus führt im wahrsten Sinn des Wortes zu Verkündigung.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass weder Einsamkeit noch das Alleinsein mit Jesus in den Evangelien ein Selbstzweck ist. Es geht vielmehr immer um das, was an Gotteserfahrung und Gottesbegegnung in der Einsamkeit geschieht: Welche Schriftstellen erschließen sich neu in ihrer Tiefe? Welche Facetten des Lebens können heilen? Welche meiner Fragen werden beantwortet? Worauf richte ich mich jetzt aus?

von Katrin Brockmöller

Die Autorin

Dr. Katrin Brockmöller ist Alttestamentlerin, geschäftsführende Direktorin des Katholischen Bibelwerks e.V. und Schriftleiterin der Mitgliederzeitschrift Bibel und Kirche.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Bibel und Kirche. Die Themenhefte Bibel und Kirche erscheinen viermal im Jahr und informieren über aktuelle Forschungsdiskussionen, spannende kirchliche Entwicklungen und neue pastorale Möglichkeiten mit der Bibel.