Auch ohne Termin: Einmal rein in die Kirche
Jerusalem - Waren Sie in letzter Zeit einfach mal so in einer Kirche? Viele Menschen nutzen Gotteshäuser, um ganz bewusst für sich allein und mit Gott zu sein, schreibt Schwester Gabriela Zinkl. Dafür gibt es überall Gelegenheiten. Deshalb rät sie: Ausprobieren!
Veröffentlicht am 21.11.2022 – SpiriteaHTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Klaus war neulich dort und hat eine Kerze angezündet für eine Kollegin, kurz danach hat er darüber ein Video gepostet. Auch Simone geht ab und zu an so einen Ort und erzählt ruhig und gelassen, wie gut das ihrer Seele tut. Natascha ging mit Tränen in den Augen hinein, für sie ist es ein Zufluchtsort, gerade jetzt, wo in ihrer Heimat Krieg ist und ihre Familie jeden Tag ums Leben kämpfen musst. Seit Jahren, als Elli ihr Frühgeborenes zu Grabe tragen musste, sucht sie jedes Mal beim Einkaufen in der Großstadt den kleinen Seitenaltar auf, der den "Sternenkindern" gewidmet ist. Lisa hat vor Kurzem ein altes Fahrrad aufgemöbelt und erzählt mir freudig, wie sie damit manchmal zwischendrin zu einem ganz besonderen Ort radelt. Sogar Jonas und Lukas tun es, manchmal, wenn sie allein sind und alles nervt, auch wenn sie lieber nicht darüber sprechen.
Sie alle und noch unzählige Menschen mehr haben in letzter Zeit tagsüber einfach so in einer Kirche vorbeigeschaut. Sie waren nicht dort, um einen Gemeindegottesdienst zu besuchen, sondern in ganz privater Sache, und sie wollten dort ganz bewusst für einige Zeit allein sein mit sich, mit Gott und der Welt. Außerhalb der Gottesdienstzeiten ist jede Kirche ein Haus des Gebets, ein Ort der Stille, des Zu-sich-Kommens, der besonderen Gegenwart Gottes. Deshalb bietet eine Kirche Raum für Momente und Stimmungen, die nicht selbstverständlich sind und die heute oft selten anzutreffen sind, vielleicht noch am Ehesten im Kino, im Theater oder im Konzertsaal, vor Beginn der Darbietungen selbstverständlich. Was machen Menschen wie Klaus, Natascha, Elli oder Jonas, wie Du oder ich tagsüber am "heiligen Ort", wie man so schön sagt? Sich zum Beispiel still in eine Bank setzen, alle Unruhe und Ärger an sich vorbeiziehen oder gleich draußen vor der Tür lassen. Den ganzen aufgestauten "Mist" der letzten Wochen in Gedanken und Stoßgebeten ablegen, vorne am Altar, unter dem Kreuz, bei Jesus, Maria, beim heiligen Antonius, beim lieben Gott oder sonst jemandem. Eine Kerze für einen nahe stehenden Menschen anzünden, weil vielleicht nur noch das hilft. Einen Wunsch oder eine Fürbitte in ein Buch schreiben, das dort dafür bereitliegt. Oder ganz einfach mal in Ruhe gelassen werden und sich kurz zurückziehen an einen Ort, wo einen niemand vermutet. Hideaway, Chillout-Room, Offline-Area oder Wellnessoase – all das kann ein Kirchenraum sein und bieten, ohne großen Schnickschnack, einfach nur durch die schlichte Präsenz der Kirchengebäude, Kapellen und Gebetsräume in unserer dicht an dicht bebauten und durchgestylten Lebenswelt.
Auszeit für die Seele
Unsere Kirchen sind – zum Bedauern mancher – kein Wohnzimmer, wo man die Beine hochlegen und sich tiefenentspannen könnte, und doch bieten sie vor allem eines, eine Auszeit für die Seele, Abstandnehmen von den eigenen Sorgen und Problemen, Möglichkeit zum Gespräch mit Gott. Viele Menschen kommen deshalb tagsüber in eine Kirche, sie ihr Leben und ihre Welt als laut und hektisch empfinden oder weil sie für etwas Danke sagen möchten oder weil sie sich einfach nur mal hinsetzen und ausruhen möchten, alles Weitere ergibt sich von selbst, sie müssen hier nichts Besonderes leisten oder vollbringen, sondern einfach nur mal da sein. Als "Anders-Orte" versteht die Theologie die Kirchen heute, in Anlehnung an den französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984).
Er erinnerte uns daran, dass es in jeder Gesellschaft und Kultur Heterotopien, also Anders-Orte gibt, die in besonderer Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektieren, indem sie sie negieren oder umkehren. Das beste Beispiel dafür sind die kleinen Kirchen mitten in den Fußgängerzonen unserer Großstädte. Neben den vielen Geschäften mit ihren Schaufenstern und Hochglanzfassaden wirken die Portale dieser Kirchen bisweilen altmodisch und unscheinbar und sind nicht selten versteckt. Das gehört zu ihrem besonderen Reiz, gut zu beobachten etwa in der Kölner Antoniterkirche, der Münchener Bürgersaalkirche oder der Jesuitenkirche St. Michael, der Nürnberger St.-Klara-Kapelle, der Stuttgarter Station S, der Gedächtniskirche am Berliner Kudamm oder der Erfurter Allerheiligenkirche. Sie und viele andere mehr sind Anders-Orte, allein von außen sichtbar im Kontrast zu ihrer Umgebung, geschweige denn von innen, denn sie sind vergleichsweise leer und reduziert, ohne Kauf- und Lockangebote, Regale, flimmernde Lichteffekte und ohne nervige Beschallung. Im Inneren gibt es nichts zu kaufen, sondern man bekommt etwas Seltenes geschenkt: Stille, Besinnung, Meditation, manchmal leise Musik, einen erhabenen, die Blicke und Gedanken durch großartige Gewölbe nach oben ziehen oder auf eine fokussierte Mitte hin mit Kreuz oder Tabernakel.
Gut, dass es Orte wie dies gibt und dass viele von ihnen tagsüber offen und frei zugänglich sind, Kirchen, kleine Kapellen, Räume der Stille im Krankenhaus, Kirchen an der Autobahn oder am Radweg, Gebetshäuser oder Gebetsräume am Flughafen, am Bahnhof, an der Uni und an vielen anderen Orten unseres Alltags. Manche sind versteckt, manche sind uns gar nicht bewusst, an vielen gehen wir oft vorbei und ignorieren die Möglichkeit, hineinzugehen. Vielleicht brauchen viele von uns genau das: jemanden oder etwas, der oder das sie ermutigt und einlädt, einfach mal die Türklinke einer dieser Kirchen herunterzudrücken und den Raum zu betreten. Nicht um ihn kunsthistorisch in den Blick zu nehmen, sondern um darin abzutauchen, still zu werden wie ein Fisch im Wasser. Und dann nach einiger Zeit gestärkt wieder hinauszugehen, in den Alltag.
Wer die Verantwortlichen, Reinigungskräfte und Aufseher dieser offenen Kirchen, Kapellen und Gebetsräume nach deren Besuchern und Besucherinnen fragt, wird vielleicht erstaunt sein: Die meisten dieser Orte sind gut besucht. Da sind Menschen, die kommen unter der Woche mal eben auf einen Sprung vorbei, zwischen Einkäufen, in der Mittagspause, nach der Arbeit, auf dem Heimweg, vor einer Prüfung, in der Wartezeit bis zur Abfahrt des Zugs oder bis zum Abflug. Sie setzen sich für fünf Minuten oder länger in die Reihen, zünden vielleicht eine Kerze an, schreiben ein Gebet ins Fürbittenbuch oder sind einfach nur ganz still da. Manche nehmen sich beim Hinausgehen eine Karte, einen Gebetszettel oder einen Bibelvers mit oder stecken ein Heft mit der Beschreibung der Kirche in ihre Tasche.
Einfach mal ausprobieren
Kirchen sind anders als andere Räume und Gebäude. Wir glauben, dass Gott uns dort ganz besonders nahe ist, nicht zuletzt durch seine Gegenwart im Tabernakel, der in jeder katholischen Kirche durch ein brennendes Licht markiert wird. Als Anders-Orte sind unsere Kirche Hoffnungsorte, Trostorte, Dankesorte, Freudenorte – das genialste daran: Sie sind das alles zusammen, in ein und demselben Raum.
Es bleibt zu beten und zu hoffen, dass Kirche weiterhin präsent ist mitten in unseren Wohn- und Lebensorten, in unseren Städten, Stadtvierteln und Dörfern, denn wo sonst kann man sich – kostenlos – trösten lassen, seine Sorgen abladen, seinen Dank und seine Freude hinausposaunen, vielleicht sogar vom Kirchturm. Das Beste daran: Das geht in vielen Kirchen jeden Tag, ohne Termin – also am besten einfach mal ausprobieren, es ist keine Anmeldung erforderlich!
Die Autorin
Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.