Die Wüsten-Freaks: Authentisch und aktuell bis heute
Jerusalem - Menschen, die irgendwie anders sind – die gibt es überall: Freaks, Aussteiger, Sonderlinge. Sie stehen ganz in der Tradition mit den Wüstenvätern und -müttern, schreibt Schwester Gabriela Zinkl.
Veröffentlicht am 13.03.2023 – SpiriteaHTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Wer kennt sie nicht, die Freaks mitten im Großstadtdschungel?! Da ist der Typ mit den zerzausten Haaren, der mit seinem Wägelchen durch die U-Bahn-Stationen zieht und in den Papierkörben nach Pfandflaschen sucht, als ob es um ihn herum keine Menschenseele gibt. Oder der kauzige ältere Herr, der nur selten aus seiner Einraumwohnung im 11. Stock des baufälligen Hochhauses herauskommt und ab und zu gedankenverloren zum Supermarkt um die Ecke schleicht. Die junge Frau, die jedes Jahr in den Sommerferien in die Schweizer Berge geht, um dort Hirtin für eine Ziegenherde zu sein, bis sie irgendwann ganz aussteigt aus ihrem Job in der Stadt und sich ganz zurückzieht auf die Alm. Irgendwie sind sie alle drei Freaks, jede auf seine ganz eigene Art. Aussteiger, Randexistenzen, Sonderlinge – Eremiten oder Einsiedler wäre eine freundlichere Beschreibung für sie. Sie wirken wie aus der Zeit und Gesellschaft gefallen und sind schräge Vögel, ihr abgesondertes, zurückgezogenes Leben will nicht so recht ins 21. Jahrhundert passen.
"Schneide ab die Neigung zu vielen Dingen, damit nicht dein Sinn verwirrt werde und die Herzensruhe nicht gestört wird." (Evagrius Ponticos, 345-399, Wüstenvater in Ägypten)
Und doch stehen sie in bester Tradition mit den Wüstenvätern und Wüstenmüttern des 3. und 4. Jahrhunderts in der ägyptischen oder syrischen Wüste. Auch sie waren Freaks, unnahbar und doch auch besonders, von den einen verachtet, von anderen bewundert für ihre Radikalität. Die sogenannten Wüstenmönche lebten dort ab dem 3. Jahrhundert als Einsiedler oder in kleinen Gruppen, fernab von den Städten und Dörfern. Auch einige Frauen taten es ihnen gleich und zogen sich in die Einsamkeit zurück. Sie waren zu ihrer Zeit so etwas wie Revolutionäre, stellten die Gesellschaftsordnungen infrage, übte Kritik an der Bigotterie der Glaubenspraxis und prägten einen völlig neuen Lebensstil. Fasten, Nachtwachen und radikales Glaubensleben, persönliche Hingabe genauso wie ein innerer Kampf mit ihrem Glauben und mit Gott, zählten zu ihren Markenzeichen. 1.700 Jahre später sind ihre Gedanken und ihre Lebensform noch immer präsent und legendär. Sie waren unbequem und doch extrem erfolgreich mit ihren Ideen und sie dafür bekannt bis heute. Vor einigen Jahrzehnten erst hat man in der christlichen Tradition diese geradlinigen, aber immer sehr menschlichen, weisen und unbeugsamen Freaks wiederentdeckt – und damit auch, wie unglaublich aktuell und immer noch revolutionär ihre Botschaft auch für Menschen heute ist.
Ein Bruder kam zu einem Wüstenvater und erbat von ihm ein "Wort", einen Weisheitsspruch, aus dem er für sein Leben lernen kann. Der Wüstenvater gab ihm mit auf den Weg: "Geh in deine Zelle [= dein Zimmer] und setze dich nieder. Deine Zelle wird dich alles lehren." (Weisheit der Wüstenväter)
In der Einsamkeit der Wüste, abgeschieden von Städten und Dörfern, verfolgten die Wüstenväter und einige wenige Wüstenmütter, wie zum Beispiel Theodora, den Weg des Betens und Arbeitens und der radikalen Suche nach Gott und Hingabe an ihn. Sie orientierten sich dabei einfach am Ruf des Evangeliums: "Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen; und du wirst einen Schatz im Himmel haben; komm und folge mir nach!" (Matthäus 19,21). Dieser radikale doch konsequente Lebensstil in der Wüste wirkte auf viele faszinierend. Viele Schüler folgten ihnen, die meisten davon gaben allerdings nach kurzer Zeit wieder auf. Dafür gelten diejenigen, die diesen asketischen Lebensstil tatsächlich durchzogen, gelten bis heute als Heilige und prägten die frühchristliche Wüstentradition entscheidend: Antonius der Große in er ägyptischen Wüste (zwischen 251 und 356), ist der wohl bekannteste von ihnen, auch Pachomius, Paulus von Theben oder Theodora im 4. Jahrhundert kann man als religiöse Spinner bezeichnen oder als Wüstenväter und Wüstenmütter im positiven Sinn. Einmal weil sie ganz bewusst in der Wüste, Ödnis und Einfachheit lebten, fernab von allen Ablenken des Alltags. Weil sie geschätzte Ratgeber waren für alle, die sie darum baten, erhielten sie den Ehrennamen "Vater" oder "Mutter". Ihre Schüler verfassten bald Lebensbeschreibungen, gespickt mit Zitaten und Sinnsprüchen. So verbreitete sich der Geist der christlichen Väter und Mütter der Wüste rasch. Freaks sind einfach faszinierend für alle anderen "Normalos". Manchen galten sie als gewisse Attraktion, der man gerne einen ehrfürchtigen Kurzbesuch abstattete, doch ihr asketischer Lebensstil war für die meisten unerreichbar. "Fliehe den Bischof und die Frau" – oder "den Mann" lässt sich als Lebensmotto dieser frühchristlichen Aussteiger zusammenfassen. Sie waren die Pioniere und Pionierinnen des christlichen Mönchtums. Viele von ihnen sahen sich nach dem Ende der Christenverfolgungen im 3. und 4. Jahrhundert in der geistlichen Nachfolge der Märtyrer und Märtyrerinnen der Frühen Kirche, indem sie die Entbehrungen des Lebens in der Wüste auf sich nahmen. Das Leben dort war wahrlich kein Zuckerschlecken, und ist es bis heute nicht. Dass sie sich allein von Heuschrecken, wildem Honig und Kräutern ernährten, ist bis heute legendär, genauso wie ihre überlieferten Zitate und Anekdoten.
"Wer in der Wüste sitzt und die Herzensruhe pflegt, wird drei Kämpfen entrissen: dem Hören, dem Reden und dem Sehen. Er hat nur noch einen Kampf zu führen: den gegen die Unreinheit" (Antonius der Einsiedler).
Die Freaks, die für Gott in die Wüste gingen, hatten kein beschauliches Leben, sondern jede Menge zu kämpfen, mit dem allerschwersten Gegner: mit sich selbst. Von Antonius dem Einsiedler ist überliefert, dass er sein ganzes Leben mit Dämonen oder Versuchungen zu kämpfen hatte. Kombiniert mit der sengenden Hitze und dem Ausgeliefertsein in der Wüste kann man sich das gut vorstellen. Die Wüstenväter und -mütter waren absolut authentisch, weil sie mit ihren persönlichen inneren Auseinandersetzungen offen umgingen. Wer wie sie allein "in der Wüste" überleben will, braucht nicht bloß Wasser und Brot. In der Wüste – und heute kann die Wüste überall sein, wir müssen uns nur mal umsehen – muss jeder lernen, mit sich selbst klarzukommen. Das konfrontiert mit den eigenen Sehnsüchten, Stärken und Schwächen, irgendwo dazwischen findet man dann vielleicht einen Lebenssinn und noch mehr: Stärkung durch Gott. Also: nichts wie auf in die Wüste, zumindest mal auf Zeit!
"Ich mache jeden Tag einen Anfang." (Makarios der Große)
Die Autorin
Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.
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