Psychologin über die Freude zu Tanzen – nicht nur in den Mai
Bonn/Frankfurt - Die frühere Ballett-Tänzerin Julia F. Christensen bringt zusammen, was eigentlich nicht zusammenzupassen scheint: Tanzen und Wissenschaft. Ihr Spezialgebiet: Tanzen im Gehirn. Im Interview erklärt sie, warum das spaßige Bewegen unterschätzt wird.
Veröffentlicht am 01.05.2023 – SpiriteaHTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Tanzen und Wissenschaft – zwei Bereiche, die nicht zusammenzupassen scheinen. Nicht für Julia F. Christensen. Die frühere Ballett-Tänzerin forscht am Frankfurter Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik. Das Spezialgebiet der preisgekrönten Psychologin und Neurowissenschaftlerin ist das Thema Tanz und Gehirn. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht die Tangotänzerin über ihr Forschungsgebiet – und erklärt, warum wir alle mehr tanzen sollten.
Frage: Frau Dr. Christensen, wie kam es, dass Sie sich beruflich mit dem Tanzen beschäftigen?
Christensen: Ich habe eine professionelle Tanzausbildung verletzungsbedingt aufgeben müssen und musste mich umorientieren. Stattdessen habe ich Psychologie und Neurowissenschaften studiert. Tanzen ist ein menschliches Verhalten, das man erforschen kann. Eines Tages hat mir bei einer Studie am Magnetresonanztomographen ein Professor einen Artikel gezeigt, in dem es um die Gehirne von Tänzern ging. Ich war sofort fasziniert.
Denn am Tanzen kann man sehr viele Prozesse im menschlichen Gehirn erforschen – Emotionen und Sozialverhalten ebenso wie kognitive, orthopädische und andere medizinische Aspekte. Das Tanzen wird unterschätzt, weil es mit einem hohen Spaßfaktor verbunden ist und nicht seriös genug wirkt. Für mich ist Tanzen ein sehr grundlegendes menschliches Verhalten, das wir pflegen sollten. Dazu möchte ich Menschen immer einladen.
Frage: Warum tanzen Menschen überhaupt gerne?
Christensen: Das Tanzen ist uns in die Wiege gelegt. Wir Menschen haben – anders als Menschenaffen – über die Ganglien im Rückenmark eine neuronale Verbindung zwischen Gehör und den großen Muskeln unseres Körpers. Wenn unsere Ohren rhythmische Töne hören, dann wird das – salopp gesagt – an andere Körperteile weitergeleitet. Rhythmen sind für unser Gehör etwas Besonderes – sie boxen unsere großen Muskeln regelrecht in Tanzbewegungen hinein. Schon Neugeborene bewegen sich – ganz minimal – im Rhythmus von Musik.
Frage: Welche gesundheitlichen Effekte hat das Tanzen?
Christensen: Erste vielversprechende Studien zeigen: Wenn man in seiner Freizeit tanzt – einmal die Woche oder auch jeden Abend ein bisschen – dann hat das unglaubliche Gesundheitseffekte. Gestresste Menschen haben danach beispielsweise weniger Stresshormone im Blut, die Hormone werden ausbalanciert. Beim Paar-Tanzen spielt auch noch die Synchronbewegung eine Rolle, das Bindungs- und Wohlfühlhormon Oxytocin wird ausgeschüttet. Zusammen mit der Musik hat das einen positiven Effekt auf unsere neuronale Balance. Auch unser Immunsystem wird reguliert, die Zellen regelrecht regeneriert.
Und natürlich tut uns Tanzen auch körperlich gut, wenn wir am Tag viel vornübergebeugt sitzen und unseren Solarplexus einengen. Wir bewegen unseren Körper, gehen auch mal rückwärts, was die Beckenschaufeln nach langem Sitzen wieder aufrichtet. Bei vielen Tänzen hebt man die Arme über den Kopf; das lockert Verkrampfungen im Nacken und oberen Rücken – und im Solarplexus. Schon minimale Änderungen der Körperhaltung – etwa das Aufrichten des Oberkörpers – sind gut für unser psychisches Wohlbefinden. Studien haben außerdem gezeigt, dass tanzende Menschen ein geringeres Risiko zu haben scheinen, an Demenz zu erkranken; sie haben oft auch bessere Herz-Kreislauf-Werte.
Linktipp: Wie du mit Musik deine Stimmung heben kannst
Musik lässt niemanden kalt – und das lässt sich nutzen. Durch "Mood Management" kannst du gute Gefühle verlängern und schlechte verkürzen. Oder du machst es genau umgekehrt. Beides kann im richtigen Moment helfen.
Frage: Welchen Anteil hat daran die Musik?
Christensen: Sie hat eine sehr starke neuronale Regulationskraft – vor allem, wenn man die Musik liebt, zu der man tanzt. Der Tanz, die Bewegungen und die Musik müssen mir gefallen und guttun. Deshalb sollte man für sich den richtigen Tanz- und Musikstil finden und die passende Tanz-Community. Jede Tanzform zieht andere Persönlichkeiten an. Ich tanze mindestens einmal die Woche für viele Stunden Argentinischen Tango. Ich liebe diese Musik. Salsa kann ich mir dagegen nicht anhören.
Frage: Kinder gehen oft ins Ballett, junge Leute in Clubs zum Tanzen. Später verliert sich diesen Faden häufig. Wie kann man im Erwachsenenalter wieder einsteigen?
Christensen: Durch die Fähigkeit unseres Gehirns, immer wieder neue Verbindungen herzustellen, ist es nie zu spät, mit dem Tanzen wieder anzufangen oder es auch neu zu lernen. Es geht nicht um Perfektion. Es reicht schon, sich im Alltag kleine Zeitfenster zu schaffen – und wenn es nur 15 Minuten am Tag sind. Einfach Musik anmachen und sich dazu bewegen. Auch wenn man das nur einmal in der Woche macht, hat das schon einen Effekt.
Kleine Tanzpausen im Alltag lassen sich auch mit kleinen Kindern gestalten, die gerne mitmachen. Tanzunterricht ist überhaupt das größte Geschenk, was man Kindern machen kann, egal Junge oder Mädchen. Denn es schult das Körperbewusstsein und die Selbstwahrnehmung – und macht gute Laune.
Frage: Derzeit läuft wieder die TV-Tanzshow "Let's Dance". Offenbar macht viele schon das Zusehen glücklich – oder wie erklären Sie sich den Erfolg?
Christensen: Tanzende Menschen sind einfach ein Hingucker. Hinzu kommt ein sozialer Effekt: Die Teilnehmer setzen sich diesem Stress aus, und sie tun es auch ein bisschen für uns. Wir können uns gut mit ihnen identifizieren, denn sie sind Anfänger und stellen sich der Angst, Schritte nicht zu lernen oder dabei komisch auszusehen.
Frage: Nicht nur für den Tanz in den Mai suchen Frauen oft vergeblich einen Tanzpartner. Warum tanzen sie lieber als Männer?
Christensen: Das kann man nicht pauschal sagen. Das Phänomen ist sehr typisch für nordeuropäische Länder und eine Frage der Gewohnheit. In Lateinamerika dagegen wird kein Mann zu einer Party eingeladen, der nicht tanzen kann. Dort gilt man als uncool, wenn man nicht tanzen kann; bei uns ist das umgekehrt.
Frage: Wie entsteht so eine kulturelle Prägung?
Christensen: Schon kleine Kinder schauen anderen zu und lernen durch Beobachtung. Ein Beispiel: Eine Familie sitzt mit Baby und den Großeltern am Tisch. Plötzlich ertönt im Radio das Lieblingslied der Oma, sie springt auf und fängt an zu tanzen. Nun ist entscheidend, wie die jungen Eltern reagieren. Freuen sie sich über die tanzende Oma, oder machen sie abfällige Bemerkungen?
Im letzteren Fall lernt das Baby: Tanzen ist peinlich, andere könnten mich verhöhnen. Wir wollen aber dazugehören, das ist ein Überlebenstrieb unseres sozialen Gehirns. Also wäre ich dumm, wenn ich etwas tue, was mich ein Außenseiter sein lässt. Dass dies hierzulande auch das Tanzen betrifft, finde ich schade.
Frage: Es kann also jeder Mensch tanzen?
Christensen: Ich kenne keinen Menschen, der sich nicht heimlich bei seiner Lieblingsmusik bewegt. Es gibt nur wenige Menschen, die wirklich keinem Rhythmus folgen können und auch nicht daran interessiert sind. Diese Menschen mögen auch keine Musik. Wenn eine Person aber gerne Musik hört, dann weiß man, dass sie prinzipiell tanzen kann.
Natürlich darf man niemanden zum Tanzen zwingen; manche Menschen brauchen aber eine zweite Chance, um auf den Geschmack zu kommen – vielleicht auch mal mit einer neuen Tanzrichtung. Man hat einmal versucht, mich in einen Standard-Tanzkurs zu stecken, da bin ich auch weggelaufen. Auch der West Coast Swing mit vielen Hüpfbewegungen war nichts für meinen Rücken. Dann habe ich aber den Argentinischen Tango für mich entdeckt.
Frage: Wie findet man aus den vielen Möglichkeiten das Richtige?
Christensen: Einfach ausprobieren! Es gibt überall Schnupperstunden. Wenn man nicht erkannt werden möchte, kann man in einen anderen Ort fahren, wo einen keiner kennt und man keine Sorge haben muss, sich zu blamieren. Durch die Pandemie gibt es zudem viele Online-Tanzschulen und Tanz-Videos zum Reinschnuppern.
Frage: Haben Sie abschließend noch ein paar Tipps, wie man oder frau einen Tanzpartner finden kann?
Christensen: Viele Tanzschulen bieten Tanzpartnerbörsen an, auch online. Ich würde mich einfach bei einer Tanzschule erkundigen. Oft finden dort auch Tanzpartys statt, wo man auch alleine hingehen, Schritte üben und mögliche Tanzpartner kennenlernen kann. Wenn man sich für eine bestimmte Tanzrichtung interessiert, kann an sich dafür zudem an die Communitys wenden, die sich über Zuwachs freuen.
Und generell gilt für mich immer die Divise, die mir als Profi-Tänzerin schon so manche Tür öffnete: Wenn Sie wirklich tanzen wollen, die Schritte beherrschen oder ein/e Tanzpartner*in finden möchten: Never give up!
Infobox: Wie wir mehr durchs Leben tanzen können
Der Tanz in den Mai ist vielleicht ein erster Schritt, wieder mehr zu tanzen. Die Frankfurter Psychologin Julia F. Christensen hat Tipps, wie der Einstieg gelingt:
- Kleine Tanzpausen im Alltag einlegen: Schon eine Viertelstunde am Tag reicht, um den Körper in Schwung zu bringen und von den gesundheitlichen Wirkungen zu profitieren. Das geht auch bei der Hausarbeit, und kleine Kinder machen dabei oft gerne mit.
- Nur Mut: Wer Musik mag, kann in der Regel auch tanzen. "Wenn man nicht erkannt werden möchte, kann man auch in einen anderen Ort fahren, wo einen keiner kennt und man keine Sorge haben muss, sich zu blamieren", ermuntert die Expertin.
- Zweite Chance: Manch einer, der Tanzen nicht mag, hat schlechte Erfahrungen gemacht; vielleicht liegt ihm aber auch das Standard-Tanzen einfach nicht. Warum nicht einmal eine andere Tanzrichtung kennenlernen?
- Einfach ausprobieren: Es gibt inzwischen Hunderte von Tanzstilen. Die meisten Tanzschule bieten Schnupperstunden an. Seit Corona gibt es zudem Online-Tanzschulen und Tanz-Videos zum Reinschnuppern.
- Einen Tanzpartner finden: Viele Tanzschulen bieten Tanzpartnerbörsen an, auch online. Christensen rät, sich einfach mal bei einer Tanzschule zu erkundigen. Oft finden dort auch Tanzpartys statt, wo man andere tanzbegeisterte Menschen trifft.
- Ohne Tuchfühlung: Manche Menschen möchten keine körperliche Nähe beim Tanzen. Für sie sind Tanzarten wie Ballett oder Bauchtanz ideal. Oder alleine zu Hause einfach die Musik aufdrehen und loslegen.
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