Zurückhaltung in einer Welt der Marktschreier

Über die Kraft der Mauerblümchen

Jerusalem - Als Mauerblümchen werden vor allem Frauen bezeichnet, die sich nicht in den Mittelpunkt stellen. Schwester Gabriela Zinkl schaut heute hin, wo viele vorbeischauen – und entdeckt eine zähe Schönheit, die sich nicht verbiegen lässt.

Veröffentlicht am 27.03.2023 – Spiritea

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Sie ist immer so unscheinbar, schüchtern, wird gerne übersehen, steht meistens im Schatten, bleibt lieber im Verborgenen, hält sich am liebsten zurück. Schon eine Ahnung, um wen es hier wohl geht? – Es geht um all diejenigen, die sonst nicht beachtet werden: All die Außenseiter, die, die nicht im Mittelpunkt stehen, ja nicht einmal eine Nebenrolle haben. All die, die unsichtbar im Hintergrund wirken, in der Spät- oder Nachtschicht im Krankenhaus, an der Tankstelle, im Altenheim, bei der Polizei, beim Sicherheitsdienst am Bahnhof. Es soll heute mal um all diejenigen gehen, die namenlos sind und bleiben. Alle, die hinter den Kulissen umherkriechen müssen, Tabletts schleppen, Stapel von Tellern abwaschen, Böden scheuern und Toiletten putzen, während vorne auf der großen Bühne des Lebens alles nur so glänzt. Im künstlichen Rampenlicht und auf den vielen Insta-Accounts funkeln und glitzern die Miss und Mr. Wichtigs dieser Welt ja um die Wette und haben für jede Kamera einen verführerischen Blick parat.

Schauen wir aber nochmal hinter den Vorhang dieser Bühne, in die dunklen Ecken, an die Mauer hinterm Haus. Was ist währenddessen mit all den "no names", den Namenlosen, für die sich so gut wie niemand interessiert, außer vielleicht die Sozialarbeiter der Caritas oder Bahnhofsmission? Wo bleiben die, die sicher keine einzige Minute ihres Lebens berühmt sein werden, auch wenn Andy Warhol das ganz anders vorausgesagt hat. Die Bezeichnung "no name" ist fast schon ein Schimpfwort, auf alle Fälle etwas, das den Anderen ins Lächerliche zieht.

Was ist mit den Menschen hinter den Kulissen?

In der deutschen Sprache gibt es für alle, die nicht im Rampenlicht stehen, sondern unscheinbar sind, ein schönes, ja fast bezauberndes Wort: das Mauerblümchen. Erst einmal ist das nach botanischem Verständnis ein Kraut, das zäh ist und durch Mauerritzen kriecht. Das Mauerblümchen alias Zimbelkraut, lateinisch Cymbalaria muralis, ist gar nicht so unscheinbar, sondern im Innersten ein echter Widerstandskämpfer, der auch in Extremsituationen überlebt und schöne Blüten treibt. Das Mauerblümchen ist auch Namensgeber für die Scheuen und Schüchternen: Im übertragenen Sinn ist ein Mauerblümchen ein unscheinbares Mädchen oder eine zurückhaltende junge Frau, die wenig beachtet wird, besonders vom anderen Geschlecht. Seltsam, dass sich dieses Klischee nur auf Mädchen bezieht, nicht wahr? Ob wohl auch ein schüchterner Junge ein Mauerblümchen sein kann? Oder ist er dann eher ein Wüstenkaktus? Selten wird der Begriff Mauerblümchen auch für Jungs oder Männer verwendet.

Bild: ©Fotolia.com/Lars Gieger (Symbolbild)

Als Mauerblümchen werden oft schüchterne Frauen bezeichnet. Dabei wohnt ihnen eine besondere Kraft inne.

Die Bezeichnung eines scheuen Mädchens als Mauerblümchen stammt aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit und meint ein Mädchen, das nicht zum Tanz aufgefordert wurde und den ganzen Abend sitzen blieb. Die jungen Mädchen und Damen saßen zur damaligen Zeit bei Tanzveranstaltungen im Ballsaal am Rande auf Mauervorsprüngen an den Säulen und warteten auf jemanden, der sie zum Tanz führte. Wer nicht abgeholt wurde, blieb an der Mauer und wurde zum Mauerblümchen, so eine legendäre Deutung. Das Mauerblümchen in dieser Bedeutung gibt es auch im Französischen als "giroflée" oder als "wallflower" in der englischen Sprache.

Einmal Mauerblümchen, immer Mauerblümchen? Wer kennt nicht das Schicksal derjenigen, die im Sportunterricht auf der langen Bank warteten und warteten und wieder nicht direkt ins Basketball- oder Fußballteam gewählt wurden, sondern am Schluss einfach einer Mannschaft zugeteilt worden sind, unter den verächtlich-genervten Blicken der Klassenkamerad:innen. Ist man sein Leben lang im Abseits und abgestempelt, nur weil man schüchtern, unsportlich oder eben anders ist und nicht der Norm entspricht?
Schüchternheit ist kein Fehler oder Makel. Wenn Castingsternchen Musiker ausstechen, wortgewaltige Selfmade-Influencer:innen Profis verdrängen und dick aufgetragenes Make-Up als Fassade wichtiger ist als Substanz, dann bleiben die Stillen übrig. Manchmal stehen sie dann im Abseits, leider. Dabei hätten die Schüchternen und die Unbeachteten so viel zu sagen, würden sie sich bloß trauen, würde jemand an sie denken oder würden sie einfach mal gefragt oder nur eines Blickes gewürdigt.

Ein Lob auf die Schüchternheit!

Das Problem ist: Zurückhaltung passt nicht in eine Welt der Marktschreier und Selbstdarsteller. Seit Schüchternheit als Form ängstlicher Vermeidung zur Persönlichkeitsstörung erklärt wurde, klingeln die Kassen bei Therapeut:innen, Kontaktbörsen, Flirtseminaren, Selbsthilfeautor:innen und Pillenverkäufern. Tatsächlich haben es Schüchterne, also die, die schon in der Schule nicht als Erste den Zeigfinger zur Antwort parat hatten, es schwerer als die anderen. Man wird vom Lehrer nicht immer beachtet, nur von denen, die ein sehr feines Gespür für die wahren Qualitäten haben. Und diese Menschen sind eher selten.
In vielen Berufen wird heute ein offensives Auftreten erwartet. Das hat zur Folge, dass Schüchterne selten in führende Positionen aufsteigen. Und das ist schade! Doch Insider wissen: Mauerblümchen sind wunderschöne Blumen, gerade auf der Mauer als kargem Hintergrund. Das gilt auch für die Mauerblümchen im echten Leben: Sie lassen sich nicht verbiegen, sie müssen den anderen nichts vorspielen und lassen sich durch aufgesetzte Künstlichkeit auch nicht beeindrucken. Mauerblümchen sind authentisch, und gerade deshalb schön. Ein Lob auf die Schüchternheit, Einfachheit und Natürlichkeit der Mauerblümchen! Sie sind in vielen Gegenden eine bedrohte Art und deshalb schützenwert, gerade unter uns Menschen.

von Schwester Maria Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über  Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.

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