Kleines praktisches Helferlein in allen Lebenslagen

Das weiße Taschentuch: Begleiter durchs ganze Leben

Jerusalem - Neulich schenkte ein fremder Mann Schwester Gabriela Zinkl ein simples Taschentuch. Ein klassischer und alltäglicher Wegwerfartikel, der sich aber durch unser ganzes Leben zieht – und auch eine tiefe Bedeutung haben kann.

Veröffentlicht am 31.07.2023 – 

HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.

"Darf ich Ihnen ein Taschentuch schenken?" Die Frage des jungen Mannes an mich vor dem Eingang zum Dom in einer Fußgängerzone kommt doch ziemlich überraschend. Ich lehne erst einmal dankend ab, andere Passanten machen es genauso. Was will der mit diesem Taschentuch? Betteln? Der freundliche junge Mann lässt nicht locker und hält mir das kleine Päckchen unter die Nase. "Vielleicht brauchen Sie es für jemanden, der traurig ist?" Okay, das Argument klingt ziemlich überzeugend und ist originell. Wer kann dazu schon Nein sagen? Also nehme ich das kleine Geschenk des Fremden schließlich doch und bedanke mich. Mein freundliches Lächeln über sein besonderes Geschenk reicht ihm als Gegenleistung. Noch mehrere Tage später geht mir diese spontane Begegnung und das Geschenk des unscheinbaren Taschentuchs mit dem besonderen Auftrag an mich nicht aus dem Kopf.

Das Geschenk bestand aus einem ganz normalen Papiertaschentuch, das zur Hälfte in einer bunten Hülle aus Papier steckt. "Nimm mich!" stand als Text fett darauf gedruckt. "Trockne die Tränen der Menschen um dich herum!" Hinter dem Text sieht man auf der Papierhülle ein Bild mit Menschen, die dahin eilen oder schlendern, vielleicht am Bahnhof, vielleicht in einer Einkaufspassage. Und mittendrin: das kleine weiße Papiertaschentuch, in einem etwas anderen Kontext, mit ganzem neuem Sinn.

Rat der Mutter

Ein Taschentuch gehört bei mir zur täglichen Grundausrüstung, wie bei so vielen Menschen, nicht erst seit ich Ordensschwester bin. Normalerweise habe ich immer ein einzelnes Tuch zusammengefaltet bei mir, in der Tasche des Kleides oder der Jackentasche, früher in der Hosentasche der Jeans, in der Aktentasche oder unterwegs im Rucksack. Ein Taschentuch sollte man immer dabei haben, das habe ich schon als kleines Kind von der Mama gelernt.

Hände
Bild: ©stock.adobe.com/DALU11 (Symbolbild)

30277

Genauso war es auch bei der Herta Müller, einer Schriftstellerin, die in Rumänien geboren ist und in den 1990er Jahren nach Deutschland auswanderte. Ihre Texte beschreiben den harten Alltag und die Schwierigkeiten, mit denen liberal denkende Menschen im System der kommunistischen Diktatur jeden Tag konfrontiert waren. In einer Erzählung schildert Herta Müller ihre ganz persönliche Geschichte mit einem weißen Taschentuch. Das Taschentuch ist ihr als Kind liebevolle Mahnung der Mutter und wird am späteren Arbeitsplatz für sie zum Rettungsanker und Not-Büro, als die Genossen des Diktators an ihr nach und nach das ganze Programm menschlicher Entrechtung durchexerzieren.

"HAST DU EIN TASCHENTUCH, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Ich hatte keines. Und weil ich keines hatte, ging ich noch mal ins Zimmer zurück und nahm mir ein Taschentuch. Ich hatte jeden Morgen keines, weil ich jeden Morgen auf die Frage wartete. Das Taschentuch war der Beweis, dass die Mutter mich am Morgen behütet. In den späteren Stunden und Dingen des Tages war ich auf mich selbst gestellt. Die Frage HAST DU EIN TASCHENTUCH war eine indirekte Zärtlichkeit. […] Die Liebe hat sich als Frage verkleidet. […] Erst dann ging ich auf die Straße, als wäre mit dem Taschentuch auch die Mutter dabei“ (aus der Nobelpreisrede Herta Müllers, 2009).

Diese Erzählung geht einem lange nicht aus dem Kopf, weil das weiße Taschentuch, der uns allen vertraute Alltagsgegenstand und Wegwerfartikel, sich wie ein roter Faden durch die verhängnisvollen Ereignisse im Leben der Schriftstellerin zieht. Was für eine wichtige Rolle so ein unscheinbares weißes Taschentuch doch spielen kann!

Tränen trocknen, Trauernde trösten

Daran denke ich viel zu wenig, obwohl die Taschentücher auch bei mir vielfältig zum Einsatz kommen. Im Winter, wenn die Nase läuft; wenn meine Nachbarin oder eine ältere Mitschwester gerade keines zur Hand hat; zum schnellen Aufsaugen von Wasser oder Kaffee, wenn jemand etwas verschüttet hat; zum Abwischen der verschmierten Schokohände eines Kindes. Ein Papiertaschentuch ist vielseitig einsetzbar, wie praktisch! Das Geschenk des jungen Mannes in der Fußgängerzone hat mich an etwas erinnert, das ich über all dem praktischen Einsatz des Taschentuchs in meinem Alltag fast aus den Augen verloren habe. Ein Taschentuch kann helfen beim Trösten, wenn jemand weint und nicht mehr weiter weiß.

Das weiße Taschentuch, das kleine praktische Helferlein in allen Lebenslagen. Und es kann doch viel mehr als nur mal schnell ein schmutziges Malheur beseitigen. Mit einem Taschentuch kann man Tränen trocken. Man kann Trauernde trösten. Tränen trocknen, Trauernde trösten. Ich mag den Gleichklang dieser Worte. Aber mein weißes Papiertuch in der Tasche verwende ich meistens doch für mich allein, viel zu selten denke ich dabei an andere. Ist das nicht das große Geheimnis hinter dem Papiertaschentuch, worauf mich das unscheinbare Geschenk in der Fußgängerzone aufmerksam machen will:

Vielleicht ist da jemand, der mein Papiertaschentuch braucht. Jemand, der durch eine kleine Geste von mir genauso überrascht sein wird, wie ich neulich in der Fußgängerzone. "Nimm mich! Trockne die Tränen der Menschen um dich herum!" Was so ein kleines Papiertaschentuch für einen großen Auftrag an mich in sich hat!

von Schwester Maria Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über  Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.

Treten Sie der Facebook-Gruppe von Spiritea bei!

Sie wollen sich über Spirituelles oder Tipps für ein gutes Leben mit Gleichgesinnten austauschen? Dann werden Sie Mitglied in der Facebook-Gruppe von Spiritea. Hier finden Sie wegweisende Texte, besinnende Impulse oder inspirierende Videos – Ihre neue Kraftquelle im Alltag.