Manche sehnen sich nach ihr, andere halten sie nicht aus

Der Klang der Stille

Jerusalem - Schwester Gabriela Zinkl war mit der Bahn unterwegs, als das passierte, wovor alle Bahnreisenden sich fürchten: Ein Junggesellenabschied stieg dazu. Das bringt sie dazu, die Stille genauer unter die Lupe zu nehmen.

Veröffentlicht am 14.08.2023 – 

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Auf Deutschlandreise mit der Bahn, noch dazu mit leichten Kopfschmerzen. Handygespräche und Musik aus den Lautsprecherboxen der Mitreisenden machen die Situation nicht unbedingt besser. In Gedanken bemitleide ich die Dame, die zwei Reihen weiter ihre Mutter am Telefon zu trösten versucht, weil der Ehemann und Vater in der letzten Nacht heimgegangen ist. Die gedämpfte Stimmung im Großraumabteil ändert sich abrupt, als eine Gruppe junger Herren aus der Provinz zusteigt und sich mit Getränken und Musik für eine Junggesellenabschiedsparty aufwärmt. Die Abwehrmechanismen der Mitreisenden sind unterschiedlich: Augen zu und durch, vertiefte Konzentration in Zeitungs-, Buch- oder Notebooklektüre oder Kopfhörer auf und den Sound so laut stellen, dass alles andere übertönt wird. Apropos Kopfhörer. Wenn man die Ein- und Aussteigenden an den Bahnhöfen beobachtet, ist nicht zu übersehen, dass Kopfhörer zu einem wichtigen Accessoire und Statement geworden sind: "Ich höre was, also lass mich in Ruhe!" Wie praktisch, dass Kopfhörer, egal ob im Ohr oder auf dem Ohr getragen, auch ein Schutz gegen Lärm und unerwünschte Geräusche der Umgebung sind.

Es gibt Menschen, die haben Probleme mit der Stille. Sie fühlen sich nicht wohl, wenn es mucksmäuschenstill ist, erst bei lauter Musik, bei Maschinenlärm oder auf dem Rummelplatz sind sie in Hochstimmung und ihr Adrenalinpegel steigt. Andere sehnen sich nach Stille oder nach dem, was sie dafür halten. Stille, Ruhe und Erholung beginnen für viele dort, wo es nur natürliche Geräusche gibt, keinen künstlichen Lärm von Menschen oder Maschinen. Zu den beliebtesten Einschlaf- und Beruhigungsvideos im Internet zählen das knisternde Kaminfeuer, Regen im Regenwald oder Regentropfen auf dem Dachfenster, das sind stundenlange Videos, millionenfach geklickt.

Über vier Minuten völlige Stille

Rein gar nichts zu hören, das macht manche Menschen sogar aggressiv, ganz jenseits von Schwerhörigkeit oder Taubheit. Während Ludwig van Beethoven (1770-1927) seine berühmte 9. Sinfonie in fast völliger Taubheit zu Papier brachte und 7. Mai 1824 in Wien die Uraufführung selbst "dirigierte", brachte 150 Jahre später ein Musikstück ganz ohne Töne das Publikum auf die Barrikaden. So geschehen 1952 bei der Uraufführung des Stücks "4´33" von John Cage in New York. Die Darbietung besteht aus drei Sätzen mit dem programmatischen Namen "Tacet" (I-III), die Musik schweigt. Die Zuhörer sahen, wie der Pianist zu Beginn das Klavier schloss und es zwischen den musikalischen Sätzen kurz öffnete, um es gleich wieder zu schließen. Genauso blätterte er die Seiten der Partitur um und orientierte sich für die angegebene Zeit an einer Stoppuhr. Mit Ausnahme der kleinen Pausen zwischen den Sätzen ist 4 Minuten und 33 Sekunden lang Stille zu hören, also gar nichts, nur die Geräusche im Raum. Das löste damals bei den Zuhörern einen handfesten Skandal aus, manche tuschelten irritiert miteinander, andere verließen wütend den Saal. Der Experimentalmusiker John Cage (1912-1992) bewegte sich schon einige Zeit an den Grenzen von Musik, Schall und Stille, lange Zeit wollte er das Musikstück mit "Silent Prayer" betiteln, stilles Gebet. Es ging ihm um eine naive Verteidigung der Stille, sondern um die Sensibilisierung für Ton Klang und Hören. Auch Stille kann Musik sein, genauso wie Alltagsklänge zu musikalischen Instrumenten werden können, wie Cage schrieb: "Wir könnten ein Quartett für explodierenden Motor, Wind, Herzschlag und rauschende Landschaften komponieren."

Beten in einer Kirche
Bild: ©stock.adobe.com/Gabriel (Symbolbild)

Auch das Gebet ist mit der Stille verbunden.

Es ist nicht zu überhören, die Welt um uns herum klingt, summt und dröhnt. Absolute Stille gibt es nicht. Immer ist ein Grundrauschen vorhanden, das ganz eigene Klangmuster besitzt. Weil Lärm und Informationsdichte zugenommen haben, erleben wir das Leben heute lauter als früher. Dabei wir gar nicht so genau, ob es früher lauter oder leiser war, denn die Relikte aus der entfernten Vergangenheit sind ohne Audiospur. Was mögen Adam und Eva, Ötzi aus dem Eis, Kleopatra, Jesus, Karl der Große und all die Menschen auf den Bildern eines Pieter Bruegel zu ihrer Zeit wohl gehört haben? Was für eine Geräuschkulisse hatten sie im Vergleich zu heute? Es gab keine Autos, Züge, Flugzeuge, Maschinen oder Fabriken, dafür gab es aber jede Menge Hufgetrappel, klappernde Kutschen, Alltagsgeräusche der Handwerker und Haushalte und zu allen Zeiten gab es menschliche Stimmen, Musik und Gesang.

Damals wie heute muss unser menschliches Gehirn Unmengen an Geräuschen und Tönen verarbeiten. Doch es ist darauf nicht wirklich eingestellt. Es gibt ein Mittel gegen diese Überforderung: Stille. Trotzdem hat der "Sound of silence" für manche etwas Unheimliches. Sie erschrecken vor der Stille, weil es sich anfühlt, als sei kein Leben da, alles tot. Es dauert, bis wir uns daran erinnern und gewöhnen, dass jeder Klang und Laut aus der Stille kommt und zur Stille zurückkehrt.

Welche Kraft in der Stille liegt, wissen alle Religionen dieser Welt. Deshalb sind Meditation und Gebet immer auch mit Schweigen und Stille verbunden. Gerade durch die Stille sind sie heilsam, ausgleichend und beruhigend, auch, wenn uns die Stille und das Schweigen Gottes nicht selten irritieren und unzufrieden machen. Die Bibel kennt eine sehr liebevolle Geschichte über die Stille, die sicher auch John Cage und Co. gefällt. Im Alten Testament ist der Prophet Elija auf der Flucht und verbirgt sich nachts in einer Höhle, verzweifelt wartet er auf Gott. "Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes leises Säuseln" (1 Kön 19,11-12). In diesen leisen Tönen, in der Stille erkennt Elija Gottes Gegenwart. Gott ist da, in dieser Stille. Es ist Stille, aber keine Sprachlosigkeit. Es ist Ruhe, aber kein bedrohliches Schweigen. Aus der Stille, nicht aus dem Geschrei und der Gewalt wachsen Gedanken, die der Welt positive Impulse geben.

von Schwester Maria Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über  Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.

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