Weinen hilft: Manchmal können Tränen ein Anfang sein
Jerusalem - Der Himmel weint, heißt es so schön – das passt gleich doppelt zum kalten Trauer-Monat November. Wir Menschen unterdrücken unsere Tränen aber oft, schreibt Schwester Gabriela Zinkl. Dabei wird schon in der Bibel bitterlich geweint.
Veröffentlicht am 20.11.2023 –HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Draußen regnet es in Strömen. Der Himmel weint, heißt es so schön. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sieht es tatsächlich so aus, als ob tausend Tränen die Glasscheibe hinunterlaufen. Und doch sind es keine echten Tränen, keine menschlichen Tränen, meine ich. Der Mensch ist nämlich das einzige Lebewesen auf unserem Planeten, das nachgewiesenermaßen weinen, also Tränen vergießen kann. Während die Regentropfen am Fenster nach gar nichts, höchstens nach saurem Regen schmecken, ist echte Tränenflüssigkeit durch ihren Geschmack unverwechselbar. Tränen sind im wahrsten Sinn des Wortes bitter. Sie schmecken leicht salzig, weil sie von der Tränendrüse – innerhalb des Auges am oberen äußeren Augenlied – produziert werden. Rein chemisch setzt sich Tränenflüssigkeit aus Wasser, Kochsalz, Glukose und Protein zusammen, ihr pH-Wert liegt bei etwa 7,5. Das ist der Grund, warum wir nach jeder Träne ein leichtes Kribbeln und Ziehen auf der Haut spüren, das vom Säureanteil kommt.
Manchen von uns ist oft zum Heulen, bei manchen begünstigen die trüben Herbstmonate das noch zusätzlich. Andere sagen, sie hätten das Weinen im Laufe ihres Lebens verlernt. Dabei sind wir alle doch zum Beginn unseres Lebens unter Tränen ins Leben gestartet, entweder bei der Geburt oder spätestens dann, als uns das erste Mal fernab der Nabelschnur ein Hungergefühl überkam und nicht gleich gestillt wurde. Als Baby und Kleinkind haben wir unzählige Tränen vergossen, manchmal hat es uns ans Ziel unserer Wünsche gebracht, oft hat es uns weinen lassen, bis wir müde wurden. In diesem Punkt unterscheiden sich Mädchen und Jungen als Kinder übrigens nicht: Bis zum 13. Lebensjahr weinen beide gleich viel, erst ab der Pubertät und mit Zunahme der Geschlechtshormone tritt eine deutliche Veränderung ein. Frauen weinen viermal so viel wie Männer, außerdem besagt eine ziemlich chauvinistische Redensart ja, "Echte Männer weinen nie".
Frauen und Männer unterdrücken den Schmerz lieber
Nicht selten ist uns zum Weinen zumute und trotzdem tun wir es nicht. Frauen unterdrücken das Weinen, weil sie nicht hysterisch oder unbeherrscht wirken wollen. Männer schämen sich zu weinen, weil sie nicht wie ein Weichei dastehen wollen. Zugleich haben beide Seiten die Hoffnung, mit den weggelächelten Tränen auch den Schmerz und die Trauer unterdrücken zu können.
Alles nur Vorurteile? Irgendwie schon, denn grundsätzlich gilt: Ohne Tränenflüssigkeit könnten wir nicht leben. Unsere Augen würden nach ein paar Tagen vertrocknen, wie Weintrauben, die zu schrumpeligen Rosinen werden. Das Ende vom Lied: Wir wären blind und könnten nicht mehr sehen. Im Normalzustand wird unser Augapfel bei jedem Zwinkern kurz befeuchtet und bleibt geschützt.
Dagegen ist das Weinen natürlich etwas ganz Anderes. Auch wenn manche sagen, sie können ihre Tränen steuern, also quasi auf die Tränendrüse drücken oder Theater spielen und Krokodilstränen weinen – echte, ungekünstelte Tränen haben immer eine Ursache. Wenn wir Tränen "vergießen" – ein Schelm, wer bei diesem Wort an eine Gießkanne denkt –, ist das einmal eine Reaktion, nicht selten vom Unterbewusstsein gesteuert, deshalb sind wir oft machtlos dagegen und können es nur begrenzt unterdrücken. Zum Beispiel, wenn man bei einer romantischen oder beklemmenden Szene im Kinofilm weinen muss. Zum anderen kann das Weinen durch eine innere Erschütterung, Schmerz, Enttäuschung oder durch eine nervliche oder psychische Krankheit ausgelöst werden.
Beim Weinen zeigen wir Gefühl, wir zeigen uns von unserer verletzlichen Seite, ob wir es wollen oder nicht. Das lässt sich sehr gut bei einer prominenten biblischen Gestalt beobachten, deren bittere Tränen eine Mischung aus Selbstmitleid und persönlichem Frust offenbaren:
Mitten im Hof hatte man ein Feuer angezündet und Petrus setzte sich zu den Leuten, die dort beieinandersaßen. Eine Magd sah ihn am Feuer sitzen, schaute ihn genau an und sagte: Der war auch mit ihm zusammen. Petrus aber leugnete es und sagte: Frau, ich kenne ihn nicht. Kurz danach sah ihn ein anderer und bemerkte: Du gehörst auch zu ihnen. Petrus aber sagte: Nein, Mensch, ich nicht! Etwa eine Stunde später behauptete wieder einer: Wahrhaftig, der war auch mit ihm zusammen; er ist doch auch ein Galiläer. Petrus aber erwiderte: Mensch, ich weiß nicht, wovon du sprichst. Im gleichen Augenblick, noch während er redete, krähte ein Hahn. Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich. (Lk 22,55-62)
Das schaue sich mal einer an: Ausgerechnet Petrus, der Erste der Apostel, dessen Name "Fels" bedeutet, der Unerschütterliche, er vergießt Tränen in dem Moment, als er sich selbst eingestehen muss, dass er Jesus gegenüber bei Weiten nicht so loyal und zuverlässig war, wie er während des letzten Abendmahls geglaubt hatte. Nun hat Petrus seinen Förderer und Superhelden Jesus verleugnet. Doch nur ein Blick von Jesus genügt und Petrus erinnert sich sofort an sein Versprechen. Er muss erkennen, wie feige er ist, und weint bitterlich.
Psalmen stecken voller Tränen
Manchmal können Tränen ein Anfang sein, so wie bei Petrus: sich eingestehen, dass man gescheitert ist. Die eigene Enttäuschung wahrnehmen. Oder die den Verlust vom jemanden, den man sehr lieb gewonnen hat, die Traurigkeit und Trauer beweinen. Weinen hilft uns körperlich, psychisch und spirituell. Durch Weinen wird psychischer Druck abgebaut. Viele Seelsorger, Psychologinnen und Experten auf diesem Gebiet sagen uns: Tränen können helfen, seelischen Schmerz körperlich auszudrücken und inneres Wachstum zu ermöglichen.
Wenn nichts mehr weiterhilft, dann hilft nur noch weinen. "Herr, sammle meinen Tränen in deinem Krug", heißt es in den Psalmen (Ps 56,9), in denen ohnehin sehr viel von Tränen, Traurigkeit, Enttäuschung und Wehmut die Rede ist. Ob es den Menschen zur Zeit des Alten Testaments auch schon so ging wie uns heute? Es ist erwiesen, dass die meisten Tränen abends geweint werden, in der Dunkelheit, still, heimlich, nicht selten vor dem Einschlafen ins Kopfkissen. Wie gut, wenn unsere Tränen am nächsten Morgen hoffentlich getrocknet und die Welt und wir ein Stückchen heiler geworden sind.
Die Autorin
Schwester Dr. Maria Gabriela Zinkl SMCB ist Borromäerin im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem und arbeitet als Dozentin für Kirchenrecht und als Pädagogin. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag.
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