Immer kurz vor dem Zusammenbruch

Wenn die Fassade des ewigen Funktionierens bröckelt

München/Berlin - Stressige Phasen kennt jeder. Wird der Stress indes zum Dauerzustand und Entspannung unmöglich, sprechen Experten vom Burnon. Er findet im Gegensatz zum Burnout noch wenig Beachtung.

Veröffentlicht am 08.01.2024 – 

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Der Stau in der Rush-Hour, der Streit mit dem Partner, die anstehende Prüfung: "Stress ist für viele ein ständiger Alltagsbegleiter", sagt Mazda Adli, Psychiater, Stressforscher und Chefarzt an der Fliedner Klinik Berlin. "Man findet ihn in allen Altersklassen, unabhängig von Beruf oder Geschlecht und über alle Kulturgrenzen hinweg." Seit einigen Jahren jage in den Medien eine Krise die andere, und es sei für viele besonders schwer, innerlich zur Ruhe zu kommen, so Adli. Kein Wunder also, dass der Wunsch nach weniger Stress auf der Liste der Neujahrsvorsätze seit langem einen der vordersten Plätze belegt.

Wenn sich bei akutem Stress die Muskulatur anspannt, das Herz schneller schlägt und die Atmung beschleunigt, ist das im Grunde genommen eine "gesunde" Reaktion. In früheren Zeiten sicherte sie das Überleben in Gefahrensituationen: Auge in Auge mit dem Säbelzahntiger konnte nur gewinnen, wer hochkonzentriert und sprungbereit war.

Heute, wo Menschen seltener um ihr Leben rennen müssen, wird Stress in Form chronischer Dauerbelastung zum Gesundheitsrisiko. "Folgt auf eine Phase der Anspannung keine Entspannung mehr, werden ständig Stresshormone ausgeschüttet, der Blutdruck bleibt hoch, und unser Körper verliert seine Regenerationsfähigkeit", erklärt der Experte. Dann wache man beispielsweise trotz Schlaf gerädert auf, sei unkonzentriert und gereizt. In letzter Konsequenz drohe ein Burnout, ein Zustand völligen Ausgebrannt-Seins und totaler körperlicher sowie seelischer Erschöpfung.

Hände eines Mannes mit Hemd und Krawatte tippen nachts auf Computertastatur.
Bild: ©Photographee.eu/Fotolia.com (Symbolbild)

Der Burnon verhält sich anders als der Burnout – und wird daher oft unterschätzt oder wenig beachtet.

Wer einen Burnout erleidet, ist außerstande, den Alltag aufrecht zu erhalten; der Zusammenbruch zwingt Betroffene, ihr Leben zu ändern. Anders verhält es sich beim Burnon. "Burnon-Patienten beißen die Zähne zusammen und machen trotz andauernder Überlastung mit einem Lächeln weiter", berichtete Bert te Wildt, Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen am Ammersee, kürzlich im Münchner Presseclub. "Ein bisschen Yoga hier, eine Massage dort – das hält sie gerade so über Wasser." Der Burnon sei nicht nur als Vorstufe eines Burnouts zu werten, sondern als das eigenständige Krankheitsbild einer chronischen Erschöpfungsdepression.

Nach außen hin hochmotiviert, erfolgreich und immer auf der Gewinnerseite, versichern Erkrankte sich und anderen, wie viel Freude ihnen ihre Arbeit bereite. Während sie allem Anschein nach perfekt "funktionieren", macht sich der übertriebene Ehrgeiz in körperlichen Symptomen wie extremer Muskelverspannung, Tinnitus oder Bluthochdruck bemerkbar. Betroffene werden zudem von Versagensängsten, depressiven Phasen und mitunter von Suizidgedanken geplagt.

Die Therapie abarbeiten?

Eine Verhaltensänderung sei trotz hohem Leidensdruck schwer, erläutert te Wildt. So habe er in seiner Klinik bereits einige Manager betreut, die ihre Burnon-Therapie genauso ehrgeizig "abarbeiten" wollten wie ihre Geschäftstermine.

"Die meisten von uns definieren sich viel zu sehr über ihre Arbeit", warnt der Psychiater. "Wer nicht ständig am Rand der Erschöpfung ist, bekommt oft von den anderen den Stempel aufgedrückt, in seinem Job nicht wichtig zu sein." Zudem habe die Digitalisierung, durch die man rund um die Uhr erreichbar sei und jederzeit von jedem Ort aus arbeiten könne, das Tempo enorm beschleunigt und den Druck bedenklich erhöht. Als erschreckend bezeichnet es te Wildt zudem, dass kaum einer mehr den Mut und die richtigen Worte finde, um einen Kollegen, der sichtlich über die eigenen Grenzen hinausgehe, darauf anzusprechen.

Im neuen Jahr bewusst mit weniger Stress durch den Alltag kommen – das ist durchaus ein sinnvoller Vorsatz. Mazda Adli betont allerdings, dass es nur bei der chronischen Form der Dauerbelastung wirklichen Handlungsbedarf gebe. Hier gelte es, bewusst auf Phasen der Erholung zu achten und so einen geeigneten Ausgleich zu schaffen. Adli selbst hat das Singen für sich entdeckt: "Dass Singen – und ganz besonders das gemeinschaftliche im Chor – auf vielfältige Weise Stress abbaut und positive Emotionen stimuliert, ist wissenschaftlich schon lange bewiesen", so der Stressforscher.

von Jutta Simone Thiel (KNA)

Entspannter durchs Neue Jahr – so geht's

Weniger Hektik im Alltag, mehr Raum für Erholung und schöne Dinge – das wünschen sich viele Menschen im neuen Jahr. Der Psychiater und Stressforscher Mazda Adli hat einige Tipps, mit denen man weniger gestresst durchs Neue Jahr kommen kann:

Sich selber ein Ohr schenken: Adli rät, mehrmals am Tag in sich hineinzuhören – und sich zu fragen: "Wie geht es mir? Wie stark ist meine Anspannung gerade?" Diese Beobachtung könne sehr aufschlussreich sein.

Erholungsphasen planen: "Tun Sie täglich etwas, das Ihnen gut tut oder Freude bereitet", lautet eine Faustregel des Experten. Das müsse nichts Aufwändiges sein, das viel Zeit kostet. Kleinigkeiten genügen, beispielsweise ein schönes Lied hören, mit einem Freund telefonieren oder einen Witz erzählen.

Den eigenen Werten nachgehen: Hilfreich kann eine Liste sein mit Dingen, die einem im Leben wichtig sind – etwa, Zeit mit dem Partner/der Partnerin verbringen oder Kontakt zu Freunden pflegen. Adli: "Überlegen Sie sich, was Sie heute konkret tun können, um diesen Werten gerecht zu werden."

Den Lebensrhythmus pflegen: Sinnvoll sind laut Adli ein Tagesrhythmus mit ausreichend Schlaf, regelmäßiger Sport, eine gesunde Ernährung und ein Hobby, das Freude bereitet. Das könne etwa das Singen im Chor sein, das nachweislich für mehr Wohlbefinden sorge und die Stresshormone im Körper senke.

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