"Aus dem Netz gefallen"

Tabuthema Alterseinsamkeit – Warum es wichtig ist, genau hinzuschauen

Bonn - Einsamkeit im Alter ist ein großes Tabu. Wer will schon zugeben, dass er ganz auf sich allein gestellt ist? Ein kluges Buch zeigt Strategien gegen Alterseinsamkeit und deren Ursachen auf.

Veröffentlicht am 19.02.2024 – 

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Sie hatte ein ungutes Gefühl. Schon länger hatte sie den netten älteren Herrn aus der Nachbarwohnung nicht mehr gesehen; nun hing auch noch ein Flyer wochenlang an seiner Wohnungstür. "Dann kamen Schmeißfliegen in stetig wachsenden Mengen." Der alte Mann hatte offenbar schon lange tot in seinem Badezimmer gelegen – eine Schlüsselerfahrung für Elke Schilling.

Warum werden Menschen so einsam, fragte sie sich – und begann, nach Möglichkeiten zu suchen, all jene zu erreichen, "die aus dem Netz sozialer Beziehungen gefallen sind, warum auch immer". Nach dem Vorbild der englischen Silver Helpline gründete Schilling schließlich die Telefon-Initiative "Silbernetz" für alte und einsame Menschen. Anonym, vertraulich und kostenfrei finden hier Menschen ab 60 Jahren ein offenes Ohr, die einfach mal reden möchten.

Der Bedarf ist groß. Mehrere Millionen alte Menschen leben hierzulande noch ihn ihrem vertrauten Zuhause. Über die Hälfte von ihnen bewältige ihren Alltag eigenständig, viele lebten alleine, jede dritte Person fühle sich einsam, beobachtet Schilling. Ihnen hat sie ihr Buch "Die meisten wollen einfach mal reden" gewidmet.

Info

Das Silbernetz ist unter der kostenfreien Telefonnummer 08 00/4 70 80 90 zwischen 8 und 22 Uhr deutschlandweit erreichbar.

Über ihr Engagement bei "Silbernetz" hat die ehemalige Staatssekretärin für Frauenpolitik viele Einblicke in das Leben von alten Menschen gewonnen. Ein großes Thema ist für sie die Alterseinsamkeit. Einsamkeit könne zwar Menschen jeden Alters treffen, "Ältere kann es jedoch vor Herausforderungen stellen, die sie allein mitunter nicht lösen können". Dabei zählen das Erleben von Gemeinschaft und viele soziale Kontakte als beste Gegenmittel gegen Einsamkeit. Der Übergang von selbst gewähltem Alleinsein zur belastenden Einsamkeit, "wo Autonomie in Hilflosigkeit umschlägt" ist aus ihrer Beobachtung fließend. Nicht selten werde Menschen dann vorgeworfen, selbst an ihrer Misere Schuld zu sein.

Das will Schilling so nicht stehen lassen. Für sie liegt es auch in der öffentlichen Verantwortung, alte Menschen am Leben teilhaben zu lassen. Viele gesellschaftlichen Rahmenbedingungen begünstigen aus ihrer Sicht, dass Menschen sich vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen – und schließlich nicht mehr sichtbar sind. Dazu zählen etwa die Verlagerung vieler Informationen und Serviceleistungen ins Internet oder schwindende Infrastruktur. Die Liste ist lang: Ob Eckkneipe, Bank- oder Postfiliale, Bäckerei, Tante-Emma-Laden, Supermarkt, Verwaltungen – viele Orte des alltäglichen Zusammentreffens und persönlichen Austauschs verschwinden, gerade im ländlichen Bereich.

Der Oberkörper eines Arztes mit Kittel und Stethoskop
Bild: ©AdobeStock/Wunderbild (Symbolbild)

Neurowissenschaftler Tobias Esch wünscht sich, dass Ärzte auch die Seele im Blick haben.

Nachbarschaftshilfe ist zwar wünschenswert, aber längst nicht selbstverständlich. Zudem möchte nicht jeder alte Mensch Hilfe annehmen; manche haben schlechte Erfahrungen mit Betrügern gemacht oder kennen aufgrund hoher Fluktuation ihre Nachbarn gar nicht, gibt Schilling zu bedenken. Unterstützende Angebote "in mehr oder weniger gut erreichbaren Orten" wie Stadtteilzentren setzten einen gewissen Grad an Mobilität voraus – und das Wissen, dass es dort überhaupt Angebote gibt.

Eine weitere Beobachtung: Viele Informationen für die Organisation des täglichen Lebens sind ins Internet verlagert worden und liegen nicht mehr in gedruckter Form vor. Dienstleistungen etwa von Behörden und Banken sind zudem oft nur noch online verfügbar. Dabei haben rund zwei Millionen über 85-Jährigen keinen Internetzugang. Ihnen Technikverweigerung vorzuwerfen trifft es für Schilling nicht: Denn laut Digitalindex 2022/23 gibt es hierzulande immerhin 6,5 Mio "Offliner". Umso mehr sieht Schilling – acht Jahre Seniorenvertreterin im Bezirk Berlin-Mitte – die Kommunalpolitik in der Pflicht, all diese Menschen so zu erreichen, dass sie selbstbestimmt leben können.

"Zu alt" ist niemand

Die Autorin wirft einen differenzierten Blick auf das Leben im Alter – und beklagt wenig aussagekräftige wissenschaftliche Erhebungen zu diesem Thema, das Millionen Menschen betrifft. Die Zielgruppe selbst werde dabei oft gar nicht oder nur unzureichend eingebunden, die Realität des Alterns in der Gesellschaft nicht abgebildet. Über die Lebensumstände der über 85-Jährigen werden aus Schillings Sicht kaum geforscht, sie werden Vermutungen überlassen.

Sie kritisiert die einseitige und beschränkte Wahrnehmung alter Menschen als multimorbide, defizitär und pflegebedürftig. Dabei treffe das auf längst nicht alle Senioren zu. Viele genießen nach dem Arbeitsleben ihr selbstbestimmtes Leben, sind interessiert und offen für Neues. Schillings Empfehlung: die Chancen dieser Lebensphase sehen, realistische Vorstellungen vom Alter gewinnen, mögliche Fallstricke rechtzeitig erkennen und sich nicht von dem Vorurteil beschränken lassen "'zu alt' für irgendetwas zu sein".

von Angelika Prauß (KNA)

Buchtipp

Elke Schilling: "Die meisten wollen einfach mal reden. Strategien gegen Einsamkeit im Alter", Westend, Berlin 2024, 205 Seiten, 22,70 Euro.

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