Der Aufschieberitis den Kampf ansagen
Bonn - "Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute", heißt ein altbekannter Spruch. Heute gibt es für das Phänomen, Dinge immer wieder aufzuschieben, einen wissenschaftlichen Fachbegriff: Prokrastination. Wie man ihr davonkommt.
Veröffentlicht am 29.04.2024 –HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Eigentlich müsste man sich längst an die Steuererklärung machen; doch dann fällt der Blick auf die Pflanze, die längst hätte umgetopft werden müssen. Oder der Abgabetermin für die Seminararbeit rückt näher, doch erstmal wird vorher noch die Wohnung gründlichst geputzt. – Wohl jeder kennt solche Strategien, um sich nicht mit unliebsamen Aufgaben beschäftigen zu müssen. Seit den 1980er Jahren wird die sogenannte Prokrastination auch wissenschaftlich erforscht. Der Fachbegriff kommt vom lateinischen "procrastinare", das übersetzt "vertagen", "verschieben" oder auch "verschleppen" bedeutet. Die Psychotherapie definiert chronisches Aufschieben heute als handfeste "Störung der Selbststeuerung".
Ist das weit verbreitete Hinauszögern also eine harmlose Macke? Oder doch eine ernstzunehmende psychische Beeinträchtigung? "Sowohl als auch", sagt der Berliner Psychotherapeut Hans-Werner Rückert. Bei den Ausprägungen gibt es aus seiner Sicht – ähnlich wie beim Autismus – ein breites Spektrum: von leicht bis schwer erkrankt.
"Aufschieberitis" kennt wohl jeder
Die "Aufschieberitis" sei eine harmlose Variante eines Phänomens, das wohl jeder kenne, erklärt Rückert. "Wir alle schieben etwas auf – den Keller zu entrümpeln, Bücher auszusortieren; das ist ganz menschlich." Am anderen Ende des Spektrums kennt er Menschen, die die Post von Banken und Behörden nicht mehr öffnen. Sie verlieren allmählich die Kontrolle über ihr Leben, was bis zur Depression führen kann. Verschiedene Faktoren sorgen nach Beobachtung des Experten dafür, dass Menschen Dinge auf die lange Bank schieben. Demnach sind sehr gewissenhafte und zu Perfektionismus neigende Personen dafür anfällig; diese hohen Ansprüche können lähmen. Auch wer stets bestrebt ist, sein persönlich Bestes zu geben, bremst sich mitunter mit dieser Haltung aus.
Und auch die Aufgabe selbst – etwa das Verfassen einer möglichst guten Doktorarbeit – kann dazu beitragen, am Ende gar nicht in die Gänge zu kommen. Ein Faktor, der dem inneren Schweinehund in die Karten spielt, kann laut Rückert zudem das Gefühl sein, mit der Tätigkeit über- oder unterfordert zu sein. Besteht die Gefahr des Scheiterns, bremst das Menschen ebenfalls aus.
Die Frankfurter Psychologieprofessorin Regina Vollmeyer sieht im Aufschieben ein Zeichen für Angst oder Überforderung. "Wenn man zum Beispiel nicht weiß, wie man für eine wichtige Prüfung lernen soll, beginnt man möglicherweise zu prokrastinieren", erklärte sie jüngst im Interview der Zeitschrift "Psychologie Heute". Manche Menschen fürchteten Misserfolge, noch bevor sie eine Aufgabe angingen. Um eine schwierige Aufgabe anzugehen, könne es helfen, sie in "kleine, machbare Portionen einzuteilen", rät Vollmeyer. Auch die Rahmenbedingungen spielten eine Rolle, zum Beispiel ein selbstgewähltes Zeitfenster: "Wenn man die Fenster in einer bestimmten Zeit und besonders gründlich reinigen möchte, kann man sehr konzentriert bei der Sache sein."
Entscheidend ist laut Vollmeyer nicht, dass die Aufgabe als solche Spaß mache – dennoch vergäßen die Beteiligten auch bei Prüfungen mitunter die Zeit, weil sie so konzentriert seien. Zudem sollten Ablenkungen möglichst reduziert werden, um sich der Sache widmen zu können. "Es klappt nicht, wenn man ständig abgelenkt ist, das Telefon klingelt oder Mails aufploppen".
Bei allen Widerständen geht es darum, Dinge endlich anzugehen und die Aufgabe zu "entkatastrophisieren", sagt Rückert. Auch wenn viele der aufgeschobenen Tätigkeiten "nicht besonders lustvoll" seien, "sollte man nicht bei der Unlust stehen bleiben", erklärt der Psychotherapeut, der sich intensiv mit der Thematik beschäftigt. Denn je mehr man die Aufgabe verdränge, desto größer werde die Unzufriedenheit. Dadurch könne die Selbstachtung Schaden nehmen, hinzu komme Scham über das eigene Scheitern.
Mit der Angst im Nacken
Wenn sich Menschen schließlich doch überwinden, Liegengebliebenes anzugehen, sitzt ihnen oft die Angst im Nacken. Rückert erläutert das am Beispiel Steuererklärung: "Wenn ich fürchte, dass das Finanzamt schließlich meine Steuer schätzt, ich eventuell draufzahlen und mit Scherereien rechnen muss, kann mich das Ausmalen von negativen Konsequenzen dazu bewegen, doch an die unliebsame Arbeit ranzugehen." Statt unter Druck und "mit der Peitsche" bevorzugt der Therapeut die Vorstellung, "mit Karotte und Zuckerbrot zu arbeiten". Wer sich etwa ausmale, welch schönes Sümmchen er durch die Steuererklärung zurückbekomme, kann sich besser motivieren.
Gerne verschoben wird auch das Entrümpeln des Kellers. Rückert empfiehlt, das Vorhaben als Gemeinschaftsevent zu gestalten. Der Lieblingstipp des Therapeuten: eine "Kelleraufräumparty". Der Inhaber des Kellers ist außen vor, sitzt auf einer Art Regiestuhl und lässt die Freunde im Keller stöbern. Sie zeigen ihre Schätze dem Gastgeber, "und Sie entscheiden, was Sie behalten möchten und was die Freunde mitnehmen dürfen".
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