Wie wir den Blick für das Wesentliche schärfen

Das Kreuz Jesu: Vorübergehend verhüllt

Grafschaft - Vorübergehend geschlossen: Immer wieder begegnen wir solchen Schildern im Alltag. "Vorübergehend verhüllt" ist aktuell auch das Kreuz in der Kirche, schreibt Schwester Gabriela Zinkl. Warum packt man es nicht ganz weg? Das hat einen Grund.

Veröffentlicht am 14.04.2025 – 

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Vorübergehend geschlossen. Vorübergehend nicht verfügbar. Vorübergehend ausgeliehen. Solche Kurz-Nachrichten auf Schildern oder Hinweiszetteln springen uns ab und zu in Geschäften, Angeboten in Online-Shops oder im Museum ins Auge. Immer dann, wenn etwas, das man gerne haben oder anschauen möchte, gerade nicht verfügbar ist. Wie schade!

"Vorübergehend verhüllt", denke ich mir in diesen Tagen der Fastenzeit, wenn ich unsere Hauskapelle oder eine Kirche betrete und dort das mit einem Stück Stoff verhüllte Kreuz im Altarraum sehe. Durch den – meistens – violetten Farbton des Stoffs sticht das Kreuz im Altarraum damit mehr ins Auge als sonst. Das Kreuz fällt auf, obwohl es gar nicht wirklich sichtbar ist. Nur warum und wozu?

Die Tüten-Schublade

Jeder hat zuhause so eine Schublade oder Ablage, in der sich unzählige Tüten aus Plastik und Stoff, Taschen und Verpackungsmaterial finden. Das gehört zu unserem Alltagskram und wir nehmen eine Tüte, wenn wir sie brauchen, um einen Gegenstand vor Transport, Feuchtigkeit, Sonne, Staub oder Schmutz zu schützen. Etwas einzutüten oder einzupacken ist so selbstverständlich, dass wir dem keine große Bedeutung schenken. Und wir kämen nicht auf die Idee, das so verpackte Objekt eigens im Regal oder auf dem Tisch aufzustellen. Wen würde das wohl interessieren.

Das Verhüllen aber, also etwas sorgfältig mit Stoff zu umhüllen, um es zu schonen, ist etwas Besonderes. Noch dazu, wenn man das verhüllte Objekt dann zur Schau stellt oder an der Stelle belässt, wo es ist. Verhüllen und Enthüllen haben einen besonderen Reiz an sich. Das Künstlerpaar Christo (1935-2020) und Jeanne-Claude (1935-2009) wurde als "Meister des Verhüllens" weltbekannt. In großem Stil verhüllten sie berühmte Bauwerke, Bäume, Parks oder gleich ganze Landstriche. Ihre Verhüllung des Berliner Reichstags (1995), der Brücke Pont Neuf in Paris (1985), eines Stücks Felsenküste in Australien (1969), von Objekten im New Yorker Central Park (2005) oder kleiner Inseln in Florida (1983) und Italien (2016) mit Stoff sind bis heute ein atemberaubender Anblick, und sei es nur auf Postkarten und Fotos. Ihre simple Idee der Verhüllung und Verpackung gilt bis heute als sagenhaft. Auf einmal war da ein riesiges Gebäude, eine Brücke, ein Denkmal oder eine Stadtmauer verhüllt, eingepackt mit Stoffbahnen, unsichtbar geworden. Christo und Jeanne-Claude hatten gerade deshalb so großen Erfolg, weil sie unsere Sehgewohnheiten mit ihrer Kunst auf den Kopf stellten: Das Ding, der Baum, das Gebäude waren da und doch auch nicht da, weil sie verhüllt waren. Das ist das Besondere daran.

Bild: ©privat

Vom 5. Sonntag der Fastenzeit bis Karfreitag werden sämtliche Kreuze in den Kirchen verhüllt. Sie sind weg – und doch da.

Genauso ist es mit den verhüllten Kreuzen in unseren Kirchen, die durch violetten Stoff oder, dann oft großflächiger, besonders gestaltete Fasten- oder Hungertücher unsichtbar geworden sind. Warum stellt man das Kreuz nicht gleich ganz weg und später wieder zurück? Warum muss man es aufwendig verhüllen, so dass es am Ende doch jedem ins Auge fällt?

Genau das ist die Absicht dahinter. Vom 5. Sonntag der Fastenzeit bis kurz vor Ostern werden sämtliche Kreuze in den Kirchen verhüllt. Diese Tradition geht auf das Mittelalter zurück und hat den Hintergrund, dass wir uns zur Karwoche und vor Ostern einen der Wesensinhalte unseres Glaubens vor Augen führen: Jesus Christus, der ans Kreuz genagelt wurde, für uns gelitten hat und am Kreuz gestorben ist. War der Anblick des Kreuzes in den ersten Jahrhunderten noch verpönt, ist es für uns heute ein selbstverständlicher Anblick und Symbol der Auferstehung. Christus hat durch sein Kreuz den Tod besiegt. Das verhüllte Kreuz will uns an den Ursprung unseres Glaubens erinnern, an das Kreuz und Leid der ganzen Welt.

"Der Brauch, die Kreuze und Bilder in den Kirchen zu verhüllen, soll beibehalten werden. In diesem Fall bleiben die Kreuze verhüllt bis zum Ende der Karfreitagsliturgie, die Bilder jedoch bis zum Beginn der Osternachtsfeier."

(Aus dem Messbuch)

Dinge und Themen, mit denen man sich ständig umgibt, werden irgendwann alltäglich. Man sieht darüber hinweg. Das Verhüllen des Kreuzes möchte genau das unterbrechen.

  • Dass wir uns davon irritieren lassen.
  • Über den Sinn des Kreuzes nachdenken.
  • Sich neu auf das Geheimnis unseres Glaubens konzentrieren.
  • Die Frage zulassen, was Jesu Leiden und Tod mit meinem Leben und der Welt um mich herum zu tun hat.
  • Neu sehen lernen.

Die verhüllten Kreuze sind, genauso wie die Projekte von Christo und Jean Claude, mehr als eine Kunstaktion. Sie wollen unseren Blick schärfen für das Wesentliche.

von Schwester Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Gabriela Zinkl SMCB ist Ordensschwester bei den Borromäerinnen und in der Ordensleitung in Kloster Grafschaft. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag. Sie ist promovierte Theologin.

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