Eine Margerite muss keine Lilie werden

Sich selbst kennen und schätzen – das kann man lernen

Bonn - Viele Menschen leiden an Selbstzweifeln; oft wurzeln sie in der Kindheit. Wer sich jedoch auf Dauer nicht selbst genügt, droht auszubrennen. Eine Expertin erklärt, warum Selbstwert kein Ego-Trip ist – und was hilft.

Veröffentlicht am 13.10.2025 – 

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Was haben Pygmalion und das hässliche Entlein, Aschenputtel und Goethes Werther gemeinsam? All diese literarischen Stoffe handeln vom Umgang mit dem eigenen Selbstwert: Das hässliche Entlein von Hans Christian Andersen lernt trotz Widrigkeiten, sich selbst zu akzeptieren und zu sich zu stehen. Pygmalion kann im griechischen Mythos seine überhöhten Erwartungen an sich selbst und sein Gegenüber loslassen. Und Aschenputtel schafft sich in einem Umfeld, das sie verachtet, einen Ort, der ihr Kraft gibt.

Isabelle Meier greift diese Geschichten in ihrem Buch "Gut genug" auf. Ihre bestechende Analyse mag mancher Leserin oder manchem Leser erste hilfreich Hinweise geben. Denn: Viele Menschen kämpfen mit Minderwertigkeitsgefühlen, sagt Meier im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA): "Das moderne Individuum muss viele Ängste und Unsicherheiten aushalten, zugleich gibt es einen Verlust des Empfindens von Sinn oder Orientierung."

Zwischen Krisen und Perfektionsstreben

Ursachen dafür sieht die Lehranalytikerin, Dozentin und Supervisorin am C. G. Jung-Institut Zürich einerseits in den globalen Krisen – andererseits in der vorherrschenden "Vergleichskultur". Als gut genug gelte nichts weniger als der perfekte Körper, maximale Beliebtheit, immer neuer Erfolg. Sie frage Klientinnen und Klienten manchmal, welche Blume sie wohl wären – und wenn jemand sage, eine Margerite, dann antworte sie: "Gut, und das bedeutet, Sie sind keine Lilie. Und: Wieso auf die Lilie schielen, wenn die Margerite genauso schön ist?"

Diese Arbeit mit Bildern und Symbolen ist typisch für den Psychiater Carl Gustav Jung, dessen Geburtstag sich im Sommer zum 150. Mal jährte. Das Ziel sei, das eigene Wesen zu akzeptieren – Schwierigkeiten damit haben nicht nur Menschen mit einer Erkrankung, sondern auch etwa Introvertierte. "Wir leben in einer extravertierten Zeit, und Menschen, die ihre Energie eher nach innen beziehen und aus dem tieferen Kontakt mit wenigen Menschen, drohen unterzugehen", kritisiert Meier. Dabei dürfe auch Rückzug sein und bedeute keineswegs, dass jemand sich weniger engagiere oder weniger interessiert sei.

Ein Mädchen auf dem Arm seines Vaters.
Bild: ©somenski/Fotolia.com (Symbolbild)

Unser Selbstwert hängt auch mit unserer Kindheit zusammen.

Vergleiche beginnen – wie beim jungen Werther, der sich unverstanden, häufig auch abgelehnt und verletzt fühlt – zumeist in der Pubertät, erklärt die Expertin. Wer ein stabiles Fundament habe, könne diese Umbruchphase besser meistern – ebenso wie spätere Krisen. "Aber wenn die Kindheit schon schwierig ist, wenn man häufig kritisiert und beschimpft, als Teenager vielleicht gemobbt wurde – dann folgen im Erwachsenenleben die Selbstwertprobleme und Minderwertigkeitsgefühle." Betroffene wüssten nicht, was dagegen tun, fühlten sich hilflos und ausgeliefert.

Entscheidend sei, dass junge Menschen sich selbst etwas zutrauten, betont auch Jugendpsychiater Frank Köhnlein. Den Selbstwert der eigenen Kinder zu stärken, sei die beste Vorbeugung vor existenziellen Zweifeln, erklärte er kürzlich bei einer Veranstaltung der Zeitschrift "Psychologie Heute". Zudem könnten Eltern in schwierigen Momenten durchaus sagen, dass im Jugendalter alle Menschen auf der Suche seien, dass es auch ihnen selbst und den Großeltern ähnlich ergangen sei.

Ehrliche Grenzen statt Selbstausbeutung

Auf sich selbst zu achten, habe derweil nichts mit Egoismus zu tun, sagt Meier. Im Gegenteil: Mitunter hätten gerade diejenigen, die stets selbstlos und liebenswürdig aufträten, nicht gelernt, Grenzen zu setzen – und nähmen dies unbewusst den anderen übel. Zeigen könne sich dies in vergessenen Verabredungen, ständiger Verspätung oder unbewusstem Desinteresse. Wer Rücksicht auf sich selbst nehme, könne dagegen auch anderen gegenüber rücksichtsvoll sein, so die Expertin: "Dann macht man das, was man macht, mit vollem Herzen – und stellt an anderer Stelle klar, hier muss ich stoppen, um nicht auszubrennen."

Wie man sich diesem Verhalten annähern kann, dafür bietet Meiers Buch praktische Tipps und anregende Fragen – zum Beispiel danach, wann man sich lebendig fühlt, welche Erinnerung inneren Frieden auslöst oder welche Talente in der Kindheit gelobt wurden. Beginnen kann dieser Weg überall – auch mit einem Blick auf die Balkonblumen oder in das alte Märchenbuch.

von Paula Konersmann (KNA)

Buchtipp

Isabelle Meier: Gut genug. Den eigenen Selbstwert schätzen, Patmos Verlag, Ostfildern 2025, 176 Seiten, 18 Euro.