Vom Leben mit wenigen Dingen

Haben oder Sein – Ist weniger wirklich mehr?

Grafschaft - Influencer-Videos und Werbeanzeigen: Manchmal hat Schwester Gabriela Zinkl das Gefühl, der Wert eines Menschen wird daran gemessen, was er besitzt und wie viel. Sie hat als Ordensfrau einen besonderen Blick darauf – auch weil sie selbst einst viel besaß.

Veröffentlicht am 29.07.2024 – 

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Ist es wichtig, was man besitzt? Bin ich mehr wert, wenn ich möglichst viele, schöne oder teure Sachen mein Eigen nenne? Haste was, dann biste was. – Mich beschleicht das dumpfe Gefühl, die Werbeanzeigen, die ständig aufpoppen, wenn ich durchs Internet klicke oder scrolle, möchten mich genau das glauben lassen. Und ist nicht auch die Flut an Home-Videos von Influencer:innen, die am eigenen Küchenherd, vor dem Badezimmerspiegel oder Kleiderschrank mit Haben-Muss-Produkten posieren, Teil genau dieser Strategie?

"Haben oder Sein", nannte der deutsch-amerikanische Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) das und schrieb 1976 ein ganzes Buch darüber. Er kritisiert darin das konsumorientierte "Haben" kapitalistischer Gesellschaften, in denen Kaufen, Verkaufen und die Teilhabe am Markt der Möglichkeiten alles dominieren. Es macht die Menschen krank und aggressiv. Dem stellt er die Besinnung auf das "Sein" gegenüber, bei dem nicht der Besitz, sondern der Mensch an sich, ohne jeden Schnickschnack, im Mittelpunkt steht. Nur ein von allen Konsumzwängen befreiter Mensch ist lebendig und vernünftig. Und nur so könne die Menschheit überleben und habe eine Zukunft, meint Fromm, der heute als früher Influencer der ökologischen Bewegung gilt.

Die Zeit vor dem Kloster

Haben oder Sein, wie sieht es damit bei mir selbst aus? Als Ordensschwester habe ich mich bewusst dafür entschieden, Jesus Christus in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam im gemeinsamen Leben, Beten und Wirken mit meiner Schwesterngemeinschaft nachzufolgen. Das sind die monastischen Eckdaten eines Lebens in der Nachfolge Jesu: nach Gottes Auftrag so zu handeln, wie Jesus das getan hat oder heute tun würde, barmherzig, liebevoll, den Menschen und ihrer Not zugewandt.

Früher, bevor ich ins Kloster eingetreten bin, hatte ich unzählige Schuhe und viele schicke Klamotten. Ich erinnere mich noch gut, wie sich meine Mutter manchmal darüber aufregte, andere Male etwas auslieh. Es gab Schuhe mit hohem Absatz, flach, offen, geschlossen, elegant, sportlich, casual, getigert oder mit Tupfen, zu jedem Anlass gab es ein passendes Modell und es kamen immer wieder neue dazu. Bis dann dieser Ruf Jesu aus dem Kloster kam und ich fast alle meine Schuhe, Minikleider und engen Jeans zurückließ, verkaufte oder verschenkte. Heute besitze ich als Ordensschwester acht Paar Schuhe, ich habe sie gerade nachgezählt. Das sind deutlich weniger als früher und doch noch eine ganze Menge, von Winterstiefel über Ballerinas, Sneakers und Flip-Flops ist immer noch für jeden Anlass genau das Richtige dabei und ich bin damit absolut glücklich und zufrieden. Ist weniger tatsächlich mehr?

Ein gekreuzigter Christus hängt an einem Kruzifix in der Jesuitenkirche Il Gesu in Rom.
Bild: ©katholisch.de (Symbolbild)

Mit dem Eintritt ins Kloster entschied Schwester Gabriela sich dafür, Jesus nachzufolgen und unter anderem in Armut zu leben – ein Kontrast zu ihrem zuvor gut gefüllten Kleiderschrank.

Jede Europäerin, jeder Europäer besitzt heute durchschnittlich 10.000 Dinge, in den USA sind es dreimal so viel. Jeder Deutsche kauft sich pro Jahr etwa 60 neue Kleidungsstücke, die einen mehr, die anderen weniger. Schon kleinen Kindern stehen zuhause mehr als 200 Spielsachen zur Verfügung, sie spielen aber nur mit einem Bruchteil davon. Das sind Zahlen und Statistiken unserer Lebenswelt, die zur Realität anderer Kontinente im absoluten Kontrast stehen.

Was brauche ich wirklich? Was ist angemessen und notwendig für mein Leben, für meine Mitmenschen, für die Welt, in der wir gemeinsam leben? Das Leben in klösterlicher Gemeinschaft bringt es mit sich, dass sich jede und jeder bis auf den persönlichen Bedarf an Kleidung, Wäsche, Hygieneartikeln, Schreibwaren etc. ziemlich viel spart. Denn vieles teilt man miteinander, es gehört allen, vom Essgeschirr und -besteck über Küchenausstattung, Bücher, Musikanlage, Staubsauger, Schraubenzieher und vieles andere mehr. Trotzdem komme ich inklusive Notebook, Smartphone und Yogamatte auf über 300 Dinge, die ich besitze und die mir zum Leben, Beten und Arbeiten zur persönlichen Verfügung stehen. Ehrlich gesagt bin ich erschrocken, wie viel das immer noch ist.

100 Dinge im Besitz: Einfach – wenn man reich ist

"100 Dinge, die ich wirklich brauche", heißt ein Film von 2018, in dem zwei Freunde bei einer Wette 100 Tage auf Luxus und Konsum verzichten, indem sie all ihre Habseligkeiten in einem Container deponieren und mit dem Nötigsten auskommen müssen. Der US-amerikanische Dave Bruno, ein Held der Minimalismus-Bewegung, hat behauptet, er komme mit nur 100 Dingen aus. Wer jeden Tag zum Essen geht, andere für sich die Wäsche waschen und bügeln lässt und darüber hinaus jede Menge Dienstleistungen in Anspruch nimmt, kann sich das vielleicht leisten. Ansonsten machen ein paar hundert Gegenstände mehr oder weniger das Anliegen eines bescheidenen, auf das Notwendige konzentrierten Lebensstils auch nicht wett.

Was brauche ich wirklich zum Leben? Was ist notwendig, nützlich, sinnvoll? Was ist überflüssig, schon ewig nicht mehr benutzt oder kaputt? Was sind die 100 oder 1.000 wichtigsten Dinge, ohne die ich nicht leben kann? – Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Weniger ist mehr und Teilen, Verschenken und Reduzieren macht mir und den anderen Freude, noch mehr: Es macht zufrieden und leicht, denn es macht Sinn.

von Schwester Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Gabriela Zinkl SMCB ist Ordensschwester bei den Borromäerinnen und in der Ordensleitung in Kloster Grafschaft. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag. Sie ist promovierte Theologin.

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