Meister der Langsamkeit, Meister der Entschleunigung

Die Weisheit der Esel: Was wir von ihnen lernen können

Grafschaft - Er gilt als unschön, faul und dumm: Der Esel trägt das aber mit Fassung, schreibt Schwester Gabriela Zinkl. Wer Esel wirklich kennt, schwärmt von ihnen – und das nicht ohne Grund, denn Esel sind nicht nur treue Wegbegleiter.

Veröffentlicht am 16.09.2024 – 

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Eine Diva? – Nein, das sind sie wirklich nicht, denn diesen Rang laufen ihnen die edlen Reit-, Renn- und Dressurpferde, Ponys und Zebras schon dreimal ab. Gegen die Edelblüter haben Esel keine Chance. Mit ihrem gedrungenen Körperbau kommen die kleineren Einhufer mit dem grauen Fell eher behäbig als elegant daher. Ihr Ruf in der Tier- und Menschenwelt ist geradezu lächerlich, ihr I-A-Rufen macht sie zum Gespött, sie gelten als unschön, faul und dumm. Und zumindest aus menschlicher Sicht stellen sie das nicht selten durch ihr störrisches Verhalten unter Beweis.

Manche, die in der Kindheit vom Lehrer und anderen als "dummer Esel" gehänselt worden sind, leiden bis heute darunter, auch wenn sie inzwischen längst erwachsen sind. Und der Esel selbst? – Er bewahrt angesichts all dieser Vorwürfe die Ruhe und trägt sie mit Fassung. Im Zweifel frisst er lieber Gras und rührt sich nicht von der Stelle; warum auch, in der Ruhe liegt die Kraft.

Jenseits der Erwachsenenwelt, in den Kinderzimmern, ist der Esel ein heimlicher Star. Denn "Esel" ist der beste Freund von Shrek, der grünen, etwas grobschlächtigen Zeichentrickfigur. Die beiden ungleichen Freunde, der eine grau und agil, der andere grün und klobig, meistern gemeinsam schwierige Abenteuer und ergänzen sich perfekt. Durch kluge Schachzüge des Esels wird die Prinzessin aus den Fängen der Drachendame Elisabeth befreit und Shrek kann sie am Ende heiraten; alles wird gut. Gerade weil Shreks grauer Freund zwar etwas tollpatschig und manchmal nervig, aber doch auch ziemlich humorvoll, tollkühn und neugierig ist, hat er die Herzen der Kleinen im Sturm erobert. Wenn man Kinder und Jugendliche fragt, was sie sich einen guten Freund vorstellen, kommt nicht selten die Antwort: So wie bei Esel und Shrek.

Kein Befehl, sondern eine Bitte

Tatsächlich schwärmen auch viele reale Eselhalter davon, dass ihre Tiere echte Freunde fürs Leben sind, mehr noch als andere Vierbeiner. Man muss sie nur mit ihren Eigenarten annehmen, so wie sie sind. Das ist für die Spezies Mensch ein nicht zu unterschätzender Lerneffekt. "Esel verstehen sich hervorragend darauf, Esel zu sein", sagt Ben Hart, langjähriger Tier-Verhaltensforscher, der das Donkey Sanctuary, einen Gnadenhof für Esel im Süden Englands betreibt. "Einem Pferd erteilt man einen Befehl, einen Esel muss man bitten", gibt er interessierten Esel-Freunden mit auf den Weg. Ist der Esel also doch eine Diva?

In jedem Fall sind die langohrigen Vierbeiner anders. Anders als Pferde, als Ponys oder Zebras und anders als wir Menschen, denn sie durchkreuzen unsere Vorstellungen und Pläne. Sie lassen sich nicht dressieren und machen nicht das, was wir von ihnen wollen, sondern was ihnen in den Sinn kommt und guttut. Manchen kommt das eigenmächtig und störrisch vor, mag sein. Trotzdem sind Esel auf der ganzen Welt hoch geschätzte Lasttiere, sie trappeln mal locker ins Tal hinunter oder den steilen Bergpfad hinauf, nur eben in einem anderen Tempo, in ihrem Tempo, nicht in unserem.

Bild: ©stock.adobe.com/schulzfoto

In der Heilsgeschichte spielt der Esel eine stille Rolle, etwa an der Krippe in Betlehem bei Jesu Geburt.

Viele, die mit Kindern, Behinderten, Therapie-Bedürftigen und älteren Menschen arbeiten, schätzen Esel genau deswegen. Mit einem Esel kann nur derjenige gute umgehen, der sich seinem Tempo anpasst. Dazu braucht es Feingefühl, das nicht jeder Mensch hat. Ein Esel verlangt von seinem Gegenüber Reife, Achtung und Respekt. Es nützt nichts, einen Esel zu ziehen, wenn er auf dem Weg stehen bleibt.  Das geht nicht mit Gewalt, sondern braucht Geduld, Zeit und ruhige Zuwendung. Das ist die Weisheit der Esel: ruhig Blut.

Wer darum weiß, für den werden Esel bedeutsam und zu treuen Weggefährten. Die schöne Ägypterin Kleopatra und ihre Landsleute schätzten Esel besonders für ihre kostbare Stutenmilch, der sie heilende und wunderbare Wirkung zusprachen. Auch im christlichen Verständnis ist der Esel weit mehr als nur ein Lasttier. Er hat eine stille Rolle und ist doch nicht wegzudenken aus der Heilsgeschichte. Der Esel ist stummer Zeuge an der Krippe in Betlehem und trägt Jesus bei seinem Einzug vom Ölberg nach Jerusalem.

Die Zeit vergeht langsamer

Die Kunst-, Literatur- und Kulturgeschichte wusste das zu schätzen und war lange Zeit in den Esel verliebt. Die großen Maler von Giotto bis Rembrandt porträtierten viele Esel, zum Beispiel in Form der alttestamentlichen Erzählung von Bileam und seiner Eselin (im Buch Numeri 22) genauso gerne wie beim Einzug Jesu in Jerusalem. Selbst auf der Kinoleinwand sind Esel verewigt und zwei Filme mit Preisen gekrönt, beides liebevolle Portraits von Eseln und Menschen, "Zum Beispiel Balthasar" (1966) und als Neuausgabe der polnische Film "Eo" (2022), in lautmalerischer Anlehnung an das deutsche "I-A".

"Inmitten von Eseln vergeht die Zeit langsamer. In ihrer Gesellschaft geschieht alles ruhig und methodisch. Es fällt schwer, ihren arglosen Blick zu vergessen, dem die Hektik der Welt fremd ist", schreibt Andy Merryfield in seinem Buch "Die Weisheit der Esel". Wohl dem, der einen Esel in seiner Nähe weiß, in seine tiefen dunkelbraunen Augen blicken und auf ihn warten kann. Und wer keinen Esel im Stall stehen hat, für den lohnt auf alle Fälle ein Blick in die Bibel, ein Ausflug ins Kunstmuseum oder ein langer Filmabend. Denn Esel halten mehr Weisheiten für uns bereit, als wir denken.

von Schwester Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Gabriela Zinkl SMCB ist Ordensschwester bei den Borromäerinnen und in der Ordensleitung in Kloster Grafschaft. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag. Sie ist promovierte Theologin.

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