"Er lässt mich lagern auf grünen Auen"

Grün, wohin man blickt: Die Farbe des Lebens

Grafschaft - Es grünt so grün, schreibt Schwester Gabriela Zinkl. Jetzt ist es Zeit, rauszugehen und die Natur in ihrer sattesten Farbe zu erleben. Von der Kraft der grünen Farbe wussten schon Hildegard von Bingen und die Bibel.

Veröffentlicht am 28.07.2025 – 

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Sommer, Sonne, Gartenglück. Jetzt ist die richtige Gelegenheit, um richtig aufzutanken und einzutauchen in den grünen Farbrausch vor meiner Haustür. Also nichts wie raus ins Grüne und die intensiven Farben in der Sommersonne genießen, bevor an Blättern, Bäumen und im Gras bald wieder Gelb-, Braun- und Rottöne die Oberhand gewinnen.

Ich könnte mit dem Fahrrad mal wieder wie als Kind die Feldwege entlangbrausen, an den langen Maisfeldern vorbei. In einer saftigen Wiese mit vielen Blumen nach dem schönsten Schmetterling suchen. Mich vielleicht im Wald auf einen alten Baumstamm setzen, den Kopf in den Nacken und den Blick nach oben zu den Blättern der Baumkronen, die sich im Wind wiegen. Oder mich zumindest im Park auf eine Bank setzen und versuchen, die Blätter am Baum zu zählen. All das wirkt auf mich so wohltuend und beruhigend, weil mittendrin der heimliche Star der Natur regiert: Grün. Das unscheinbare Wort aus nur vier Buchstaben birgt eine große Verheißung: Frische, Leben, Wachsen.

Es gibt gefühlt mehr als 1.000 Varianten der Farbe Grün, von denen uns die schönsten an einen besonderen Augenblick, ein Geschmackserlebnis und eine wahre Augenweide erinnern: Apfelgrün, lindgrün, mintgrün, smaragdgrün, moosgrün, tannengrün und wie sie alle heißen.

Fake sieht man sofort

Grün ist die Farbe, die wie keine andere für Natur, Natürlichkeit, Leben und Wachsen steht. Kein Wunder, dass man es dem künstlichen Grün wie dem Plastikrasen oder den Kunstblumen sofort ansieht, dass sie nicht echt sind, im Zweifel spürt man es beim Anfassen – es fühlt sich nicht "echt" an. Denn echtes Grün ist lebendig und im Werden, so wie ein Grashalm oder ein Blatt im Laufe seines Daseins in zig Grüntönen strahlt und je nach Sonneneinstrahlung zart, stark oder matt wirkt. Grün ist nicht einfach eine Farbe im Farbspektrum unter vielen, die unser Auge wahrnimmt. Richtig besehen ist Grün eine Mischung aus den Farben Gelb und Blau. Grün ist viel mehr, es ist eine Farbe, die man fühlen, schmecken und riechen kann: im frisch gemähten Gras, beim Barfußlaufen über Moos, im Geschmack von frischem Schnittlauch. Auch deshalb ist Grün nicht einfach nur eine Farbe von vielen, sondern das Symbol für Leben und Hoffnung.

Ist unser Leben denkbar ohne Grün, ohne das grüne Kleid der Erde? Ich kann es mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Ein einziger Baum spendet zwei Menschen ein Leben lang Luft zum Atmen. Ohne die grüne Lunge unserer Wälder in allen Regionen der Erde wird die Luft zum Atmen knapp. Die Vielzahl der grünen Pflanzen kühlt die Atmosphäre. Inzwischen wissen wir ganz genau: Je mehr Flächen wilder grüner Natur gerodet werden, desto höher steigt die Temperatur unseres Planeten. Es spricht also viel dafür: Grün ist Leben.

Hildegard von Bingen
Bild: ©angelika-kamlage.de

Auch Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen kannte den Wert der Farbe grün.

Die Farbpsychologie sagt uns, dass Grün nicht nur eine vitalisierende Wirkung hat, sondern auch Harmonie schenkt. Versuchspersonen erleben Grün als beruhigend, sanft und freundlich. Grün schafft eine erfrischende und friedvolle Umgebung – wer sitzt schon gerne im grauen, leblosen Betonbunker?

"Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit und diese Kraft ist grün.
Aus lichtem Grün sind Himmel und Erde geschaffen und alle Schönheit der Welt."
Hildegard von Bingen (1098-1179)

Die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen hat das Grün ins Zentrum ihres theologischen und medizinischen Denkens gestellt. Die Benediktinerin spricht von der "viriditas", der unbändigen Grünkraft, die in allen Lebewesen steckt. Hildegard von Bingen und mit ihr viele Mystiker erinnern uns daran, dass Gott die Ursache allen Lebens ist. Seine Kraft wirkt in allem Leben auf der Erde, in der Natur und in uns Menschen. In der Natur können wir Gottes Wirken erkennen und begegnen. Die Mystikerin Hildegard von Bingen hat dies selbst erfahren, gespürt und geschaut.

Der Inbegriff des Guten

Grün, grün, grün sind alle meine Kleider, heißt es im bekannten Kinderlied. Ein grünes Kleid habe ich nicht in meinem Kleiderschrank, noch nicht einmal ein grünes T-Shirt oder grüne Socken. Aber ich mag das Grün, vor allem die tausend Grüntöne in der Natur. Und ich mag Grün auch beim Beten. Beten in Grün, Beten mit Grün, wie soll das gehen? – Es gibt einen sehr bekannten Psalm, der sich um das grüne Gras dreht und all das auf den Punkt bringt, was Grün und Leben als Geschenk Gottes für uns ausmacht:

Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.
Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. 
(Psalm 23,1-2)

Eine grüne Wiese und ein ruhiger Platz am Wasser, dafür bestimmt, dass ich mich ausruhen und stärken kann. Da weiß also jemand ganz genau, was ich und was jeder Mensch braucht: ruhig und zufrieden im Grün sitzen und am Wasser – ohne Not, ohne Sorge, ohne Kriegsgetümmel und Ärger. Das ist der Inbegriff des Guten, das was uns nährt, erfrischt, stärkt und beruhigt. Das Schönste an diesem Psalm mit der grünen Wiese ist für mich: Das ist kein frommes Wunschdenken in weiter Ferne oder unter dem Vorzeichen "das war einmal". Psalm 23 ist eine Ist-Aussage, es ist Gegenwart im Hier und Jetzt: Wir sind von Gott mit Grün umgeben und wir sollten es uns nicht unnötig verbauen. Ich muss nur die Augen aufmachen, vor meine Haustür gehen und sehen, wie gut es mein Hirte und Schöpfer mit mir meint und wie viel Hoffnung er mir durch seine Gegenwart gibt. Der Grashalm, das Blatt der Linde und der Tannenzapfen da draußen können mir darüber jede Menge erzählen.

von Schwester Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Gabriela Zinkl SMCB ist Ordensschwester bei den Borromäerinnen und in der Ordensleitung in Kloster Grafschaft. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag. Sie ist promovierte Theologin.