Ein kurzer Moment im hektischen Alltag

Ein Tischgebet: Der Blick über den eigenen Tellerrand

Grafschaft - Das Tischgebet ist aus der Mode gekommen. Schade, meint Schwester Gabriela Zinkl. Denn wer ein Gebet vor dem Essen wagt, entdeckt eine geistliche Schatzkiste. Das zeigt auch ein Blick in die Bibel.

Veröffentlicht am 20.10.2025 – 

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"Komm, Herr Jesus, sei unser Gast …" Viele kennen diese Worte noch aus Kindertagen. Manchmal murmelt man sie heute eher automatisch, vielleicht ein wenig verlegen, wenn Gäste dabeisitzen. Tischgebet, das klingt für manche nach einer anderen Zeit, nach dem Remake von "Unsere Kleine Farm", wo die ganze Familie brav am Tisch sitzt und ein Dankgebet für die eingefahrene Ernte und die vollen Teller ausspricht. Vor dem Essen beten, wer macht das schon? Und wozu braucht es so ein frommes Pflichtprogramm überhaupt? Und doch: Wer einmal genauer hinsieht, entdeckt darin eine geistliche Schatztruhe. Ein Gebet vor dem Essen, das wirkt unscheinbar. Aber gerade in seiner Einfachheit birgt es eine enorme Kraft: Es lehrt uns zu danken. Es lehrt uns, über uns selbst hinauszudenken. Und es verbindet uns miteinander und öffnet damit einen Raum für Gottes Gegenwart mitten im Alltag.

Dass Miteinander-Essen viel mehr ist als reine Nahrungsaufnahme, zeigt uns ein Blick in die Bibel. Denn dort ist das Mahl ein heiliger Ort. Jesus selbst nimmt Brot in die Hand, blickt auf zum Himmel, dankt und bricht es, um es mit allen zu teilen.

Bevor ein Wunder geschieht, wie bei der Speisung der Fünftausend, steht der Dank (vgl. Mk 6,41). Nicht erst das Wunder ruft den Dank hervor, sondern der Dank bereitet das Wunder vor, das macht den Unterschied. Auch im Abendmahl, dem Herzstück unseres Glaubens, beginnt alles mit einem einfachen "Er sprach das Dankgebet …" (vgl. Lk 22,19). An diesen biblischen Beispielen sieht man sehr gut: Danken ist kein Anhang, es ist Ursprung.

Innehalten im stressigen Alltag

In einer Welt, in der alles schnell gehen muss, in der Essen oft nur "To Go" ist, nebenbei im Stehen oder vor dem Bildschirm, kann ein Tischgebet wie ein kleines Innehalten sein. Ein kurzer Moment, in dem wir uns bewusst machen: "Ich muss nicht alles selbst machen. Vieles ist Geschenk." Kartoffeln, Brot, Nudeln, ein Stück Käse – alltägliche Dinge. Und doch wächst nichts ohne Sonne, Regen, Erde, ohne die Arbeit vieler Menschen. Ein Tischgebet lenkt den Blick weg vom Funktionieren und hin zum Staunen. Es unterbricht den Kreislauf von Haben-Müssen und Machen-Wollen. Für einen Augenblick treten wir heraus und sagen schlicht: Danke.

Danken ist mehr als ein höfliches Wort. Theologisch gesehen ist Dank eine Haltung des Herzens. Wer dankt, erkennt: Mein Leben ist getragen. Ich lebe nicht nur von dem, was ich leiste, sondern von dem, was mir zufällt – manchmal überraschend, oft unspektakulär. Im Tischgebet bekommt dieser Gedanke eine konkrete Form. Es bringt Kopf, Herz und Hände zusammen: Wir sitzen beieinander, teilen Brot, teilen Zeit und richten unseren Blick nach oben. Nicht als Flucht aus der Welt, sondern als bewusster Schritt mitten hinein: Gott ist da, auch zwischen Kochtopf und Küchentisch.

Bild: ©stock.adobe.com/Halfpoint (Symbolbild)

Durch Gebet und Dank leben wir bewusster.

Natürlich klingt das alles sehr ideal. In der Realität sind Mahlzeiten oft laut, chaotisch, Kinder zappeln, jemand schaut heimlich aufs Handy, ein Glas fällt um. Und genau deshalb ist das Tischgebet so kostbar. Es will keine perfekte Bühne. Es braucht keine besonderen Worte. Ein einfaches Kreuzzeichen, ein kurzer Satz – manchmal reicht ein leises: "Danke, Gott." Wer sagt, Tischgebet sei aus der Mode, übersieht vielleicht, dass es gerade in unserer Zeit neu entdeckt werden kann – nicht als Pflicht, sondern als Chance. Es geht nicht darum, einen alten Brauch zu konservieren, sondern neu zu spüren, wie gut es tut, den Alltag mit einem Hauch von Himmel zu würzen.

Gott, wir halten kurz inne.
Zwischen Alltag und Appetit – ein Atemzug Dankbarkeit.
Segne, was wir teilen. Segne uns – und alle, die hungern.

Vielleicht ist es anfangs ungewohnt. Vielleicht fühlt es sich seltsam an, mit Freunden oder alleine laut oder still zu beten, bevor man zugreift. Aber genau hier entsteht etwas Heilsames: Ein kurzer Moment, der uns von Konsumenten zu Empfangenden macht. Wir essen nicht einfach nur, wir empfangen. Und wer empfängt, der lebt bewusster. Dankbarkeit macht wach. Sie lässt uns aufmerksam werden für das, was oft übersehen wird: die Hände, die geerntet, gekocht, gedeckt haben; das Geschenk der Gemeinschaft; das Wunder des Lebens, das sich in jeder Mahlzeit zeigt.

Kirche als Gemeinschaft beginnt am Tisch

Tatsächlich ist der Tisch neben dem freien Feld, wie in der Bergpredigt, einer der ersten Orte, an denen Kirche entsteht: Wo Menschen sich versammeln, teilen, segnen, da geschieht etwas Sakramentales. Im Tischgebet klingt etwas davon an – wie ein Echo der großen Eucharistie. "Eucharistie" heißt Danksagung. Wenn wir zu Hause danken, verbinden wir unseren Küchentisch im Kleinen mit dem großen Tisch des Herrn. Vielleicht liegt darin die tiefste Schönheit des Tischgebets: Es erinnert uns daran, dass Gott nicht nur im Kirchenraum wohnt, sondern mitten im Alltag – dort, wo gelacht, gestritten, gegessen und versöhnt wird.

von Schwester Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Gabriela Zinkl SMCB ist Ordensschwester bei den Borromäerinnen und in der Ordensleitung in Kloster Grafschaft. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag. Sie ist promovierte Theologin.