"Mehr Zeit, die Welt zu sehen"

Der Weg ist das Ziel: Was wir von der Schnecke lernen können

Grafschaft - Beobachten und faszinieren lasen: Mit ihrer langsamen Art beeindruckt die Schnecke vor allem Kinder, schreibt Schwester Gabriela Zinkl. Erwachsene hingegen reagieren oft mit Ekel. Dabei können wir so einiges von dem Weichtier lernen.

Veröffentlicht am 30.09.2024 – 

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Ob sie wohl die Ameisen um ihre Schnelligkeit beneidet? Und die Käfer, Regenwürmer und Grashüpfer? Im Kampf um den ersten Platz im 100-Millimeter-Rennen ziehen ihre Konkurrenten locker an ihr vorbei. Doch davon lässt sich die Schnecke nicht abschrecken. Sie kriecht ihren Weg einfach in aller Ruhe weiter dahin, langsam, aber sicher.

Mit uns Menschen hat es eine Schnecke nicht gerade leicht. Dabei hat sie schon in der Tierwelt genügend natürliche Feinde. Für Igel, Maus, Maulwurf, Blindschleiche und so manchen Vogel ist sie eine einfache Beute. Gegen sie hat sie keine Chance, nicht einmal durch schnellen Rückzug in ihr Schneckenhaus, denn das wird im Ernstfall vom Gegner einfach geknackt oder mit aufgefressen, kurzer Prozess. Es soll auch Menschen geben, für die gekochte Schnecken eine Delikatesse sind; rund um den Globus betrachtet ist das aber eher ein Randphänomen.

Heiß geliebt und bewundert werden Schnecken, egal ob mit oder ohne Haus, auf jeden Fall von Kindern, besonders von denen im Kindergarten. Sie lieben die Tiere für ihre gemütliche Art der Fortbewegung, für ihren schleimigen Körper und ihre, im Tierreich so einmalige Schleimspur. Am meisten lieben sie sie wohl dafür, weil sich Schnecken beim Kriechen so wunderbar beobachten lassen und nicht weglaufen. Als Kinder wussten auch wir genau, dass man in Gegenwart einer Schnecke ganz still bleiben muss und sich kaum rühren sollte, damit das das Tierchen nicht misstrauisch wird. Sonst fährt es sofort seine Fühler ein, zieht sich in sein Schneckenhaus zurück oder rollt sich, ohne Haus, einfach zusammen. Mit Engelsgeduld und Riesenspaß lassen Kinder Schnecken zum Wettrennen antreten und wissen genau, dass es dabei kein Tempolimit gibt und man keine Stoppuhr braucht. Denn Schnecken sind Meister des "Silent Travel", einer Form des Reisens und der Fortbewegung, die gerade wieder Trend wird. Schnecken leben die Zen-Weisheit, dass der Weg das Ziel ist, jenseits von Lärm und Getriebe. Nicht umsonst beschäftigen sich Kinder für ihr Leben gern mit Schnecken, formen, basteln und malen sie aus Knete, Papier oder Ton. Schnecken muss man einfach gerne haben, weiß jedes Kind. 

Zeiger einer Uhr stehen auf drei vor zwölf
Bild: ©Václav Mach/Fotolia.com

Etwas, was eine Schnecke hat: Zeit.

Aber wir Erwachsene? Jenseits des Kindergartenalters schwindet die Begeisterung für Schnecken deutlich. "Iiih, eine Schnecke", heißt es dann schnell, oder "Igittigitt, Schnecken im Salatbeet", da hört für viele der Spaß auf. Warum sich die Liebe zu Schnecken vom Kindsein bis zum Erwachsenwerden bei vielen verflüchtigt, ist ein unerforschtes Phänomen. Man könnte meinen, es hat etwas mit dem Verlust von Zeit und Geduld und der Zunahme von Leistungsdenken und Erwartungshaltungen anderer zu tun.

Schnecken kommen pro Stunde drei Meter voran. Die Schnecke ist das Symbol für Langsamkeit. Auch auf vielen Gemälden alter Meister kriecht eine Schnecke am unteren Bildrand, nicht alles ekliges Tier, sondern in all ihrer Pracht und Vornehmheit dargestellt. Schnecken sind noch in anderer Hinsicht beneidenswert: Sie ignorieren jede Gefahr. Mitten auf dem Weg lassen sie sich unendlich viel Zeit, machen zwischendrin sogar mal Pause. Als gäbe es gar keine Zeit. Als gäbe es keine Gefahr. Als hätten sie nichts zu verlieren.

Schnecken haben keine Uhr

Was wir Menschen als Schneckentempo empfinden, zum Beispiel das langsame Dahinzockeln des Autos vor uns, ist für eine Schnecke und ihre Art der Fortbewegung ein Mordstempo. Nicht, dass sie nicht schneller könnte. Nein, sie einfach nur eine andere, ganz eigene Geschwindigkeit. Und die ist eben komplett anders als unsere, die wir immer hastend auf die Uhr schauen. Vielleicht macht das den wesentlichen Unterschied zu uns Menschen aus: Schnecken schauen nicht auf die Uhr, sie haben gar keine.

"Ich fragte eine Schnecke, warum sie so langsam wäre. Sie antwortete, dadurch hätte sie mehr Zeit, die Welt zu sehen" (Wolfgang J. Reus). Als Kinder haben wir Schnecken geliebt. Inzwischen sind wir groß geworden und schauen oft nur müde lächelnd von oben auf sie herab. Schnecken sind ein Geschöpf Gottes und wollen uns etwas sagen. Um ihre Botschaft mitten in dieser umtriebigen Welt zu verstehen, braucht es einige Anstrengung. Wer die wahre Größe und Großartigkeit einer Schnecke wahrnehmen will, der muss sich klein machen und zu ihr hinunterbücken. Der muss sich Zeit nehmen und still werden. Das können wir ein Leben lang von der Schnecke lernen.

von Schwester Gabriela Zinkl

Die Autorin

Schwester Dr. Gabriela Zinkl SMCB ist Ordensschwester bei den Borromäerinnen und in der Ordensleitung in Kloster Grafschaft. Für "Spiritea" schreibt sie regelmäßig Texte über Themen rund um Spiritualität und Glaubensalltag. Sie ist promovierte Theologin.

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